Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
VISIONS OF EXCESS
(Bojan Vuletić)
Besuch am
6. Juli 2022
(Uraufführung)
Manchmal würde man schon gern in die Vergangenheit der Landeshauptstadt Düsseldorf blicken. Noch heute gibt es in ehemals besseren Wohnvierteln prachtvolle Gärten in den Innenhöfen, die sich dem Blick der Öffentlichkeit entziehen. In den Arbeitervierteln war es laut und vermutlich ziemlich dreckig. Wie in Flingern waren in den Hinterhöfen ganze Fabriken untergebracht. Alles Geschichte. Die sich aber durchaus noch entdecken lässt. Wie zum Beispiel in der Birkenstraße 47. Wer es nicht weiß, wird achtlos an dem Gebäude vorbeispazieren. Da hat die Sammlung Philara 2016 eine ehemalige Glasfabrik in ein Privatmuseum umgewandelt. Von außen vollkommen unscheinbar, gibt es eine Ausstellungsfläche von rund 1.700 Quadratmetern. Und es gibt Räumlichkeiten für Konzerte. Das Schumannfest 2022 hat hier eine zusätzliche Spielstätte entdeckt, und jetzt gastiert das Asphalt-Festival in den Räumlichkeiten. Größter Nachteil der Spielstätte: Auf der Birkenstraße einen Parkplatz zu bekommen, gehört zu den größten Unwahrscheinlichkeiten Düsseldorfs. Anstatt für Parkplätze zu sorgen, empfiehlt die Sammlung lapidar die Anreise via Taxi oder öffentlichem Personennahverkehr. So ist das, wenn man finanziell ausreichend ausgestattet ist, um auf Publikum nicht angewiesen zu sein. Ob sich das Asphalt-Festival ebenfalls eine solche Ignoranz leisten kann, wird die Zukunft weisen.
Bojan Vuletić – Foto © Ralf Puder
Heute Abend jedenfalls ist der Zuschaueransturm gewaltig. Und das verwundert kaum. Denn Bojan Vuletić wird seine neue Komposition vorstellen, wie der Künstlerische Leiter des Asphalt-Festivals es sich jedes Jahr nicht nehmen lässt, das Publikum mit zeitgenössischer Musik zu konfrontieren. Inzwischen haben diese Uraufführungen eine Popularität erreicht, die nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch ignorieren kann. Aber auch das wird von Jahr zu Jahr peinlicher für den Westdeutschen Rundfunk, denn Vuletić nutzt sein Privileg, sich die Musiker für seine Uraufführung selbst aussuchen zu können. Und da nimmt eindeutig Weltklasse auf der Bühne Platz. Beim Publikum hat sich das längst herumgesprochen, und so bleibt heute kein Platz auf der Tribüne frei.
Visions of Excess hat Vuletić seine neueste Komposition genannt. Als Untertitel hat er einen Satz gewählt, der dem Maler Francisco de Goya zugeschrieben wird. „El sueño de la razon produce monstruos“ heißt auf Deutsch: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Den Titel des Werks kann man getrost vergessen. Marktschreierisch mag er vielleicht Publikum anlocken, aber den tieferen Zugang zum Werk erreicht man über den Untertitel. Das Werk selbst hat der Komponist in dreizehn Abschnitte mit Titeln wie Zero, sweet-sour, Please, never stop this vertigo oder Happily drunk on regrets unterteilt. Da das Werk aber durchgespielt wird, sollte man sich auch nicht weiter mit den Abschnitten befassen, sondern ganz auf den Genuss der Musik konzentrieren.
Alina Bercu eröffnet den Abend am ersten Flügel mit ein paar jazzig anmutenden Akkorden, ehe Mariel Roberts am Cello mit dissonanten Phrasen übernimmt. Am zweiten Flügel löst sie Asagi Nakata ab. Die beiden Flügel bleiben im Synchronspiel – eine besondere Herausforderung, zumal die Pianistinnen keinen direkten Blickkontakt haben – während Matt Moran das Vibrafon mit Bogen streicht. Noch hält sich Pablo Giw mit seiner Trompete zurück. Eigentlich nur noch selten spielt er herkömmliche Musik auf seinem Instrument. Er hat mehr Spaß daran, ungewöhnliche Klänge zu erzeugen. Vuletić weiß das und hat ihm seine Rolle auf den Leib geschrieben. Nicht lange, nachdem Shelly Ezra sich an der Klarinette vorgestellt hat, imitiert Giw mit seiner Trompete ein Schlagzeug. Darauf muss man kommen – und es dann auch können. Das geht ja eindrucksvoll los.
Foto © Ralf Puder
In der Folge führt der Komponist durch die unterschiedlichsten musikalischen Einflüsse. Fühlt man sich gerade noch in der Bar, in der unterkühlter Jazz gespielt wird, geht es gleich weiter auf minimalistische Pfade, um in Maschinenmusik-ähnlichen Klängen zu landen. Vor kleinen Melodien auf dem Flügel schreckt Vuletić ebenso wenig zurück wie vor den Pizzikati, die dem Cello beinahe den Klang des Kontrabasses verleihen. In den Tutti-Passagen wechseln die Musiker zwischen „jeder macht, was er will“ und harmonischen Zusammenspielen. Was den Abend neben der Virtuosität der Musiker besonders macht, ist die Konsistenz. Nicht einen Augenblick gewinnt man den Eindruck, hier seien lose Stücke „zusammengestöpselt“, eher erinnert der Verlauf an einen Staffellauf, bei dem stilistische Wechsel reibungslos stattfinden. Auch wenn es nach 50 Minuten deutlich ruhiger und entspannter wird, die Pianos führen das Publikum wieder in die abendliche Bar, wo Giw mit groovigem Trompetenspiel für angenehme Stimmung sorgt. Schließlich spielt sich Ezra in den Vordergrund, ehe sie mit den Flügeln sinnliche Ruhe ausstrahlt, die sich nur zögerlich verliert. Gibt es im Verlauf immer wieder Passagen, in denen die Ungeheuer entstehen zu scheinen, klingt das Werk im Tutti fröhlich oder zumindest versöhnlich aus.
Auch in Visions of Excess gibt es Klänge, die sich den Hörgewohnheiten des Publikums entziehen mögen. Aber Vuletić gelingt es, sie in ein Gesamtwerk einzufügen, das der Hörer als vielfältig, spannungsgeladen und abwechslungsreich statt fremdartig empfindet. Und so verwundert es nicht, dass das Publikum nicht nur die ausgezeichnete Leistung des Sextetts goutiert, sondern auch Vuletić frenetisch feiert.
Dass in der Hektik des Schlussapplauses die Klarinette zu Bruch geht, gehört nicht zum Programm und ist umso bedauerlicher, als es die Freude der Musiker über ihren großartigen Erfolg ein wenig trübt. Da ist Shelly Ezra zu wünschen, dass die Reparatur möglich ist und einigermaßen glimpflich ausgeht. Denn die Möglichkeit, die Musiker im nächsten Jahr erneut zu erleben, ist kein Versprechen, aber eine schöne Aussicht.
Michael S. Zerban