O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Ein Klavier für Anatolien

TERRA ANATOLIA
(Diverse Komponisten)

Besuch am
22. Juli 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Galerie Bernd Lausberg, Düsseldorf

Friederike Näscher zeigt gleich zwei Ausstellungen in der Düsseldorfer Galerie Bernd Lausberg. Da gibt es zum einen Transluzent – neue Inszenierungen des Fotogramms. Dabei werden Elemente aus Fotografie, Grafik und Zeichnung digital auf Papier und Glas transferiert. So entwickelt scheinbar Abstraktes eine assoziative Eigendynamik und eröffnet „einen spannenden Blickwinkel, der den Moment fixiert“. In der zweiten Ausstellung widmet Näscher sich in vierzehn Werken Heinrich Heines Frühlyrik unter dem Titel Meer und Himmel hör ich singen. Hier handelt es sich ebenfalls um Fotogramme, die allerdings zunächst analog inszeniert und dann digitalisiert werden. Das Spannungsfeld eröffnet sich hier zwischen Wort und Bild, um die „Kraft und Aktualität der Verse des Dichters auf subtile Weise sichtbar zu machen“. Bis zum 30. Juli sind die Bilder noch in der Galerie zu sehen. Und damit könnte die Geschichte zu Ende sein. Wenn Näscher nicht verheiratet wäre.

Ihr Mann heißt Ergün Aktoprak, ist nach eigenen Angaben Deutscher mit Migrationsgeschichte. Und er ist Musiker. Das muss man nutzen, denkt sich Galerist Lausberg und lädt ihn umgehend mit seinem Spannmann, dem Pianisten Jürgen Dahmen, ein. Die beiden haben vor zwei Jahren ein Album mit dem Titel Terra Anatolia eingespielt. Mit diesem Programm sollen die beiden das sechste Sommerkonzert im Galeriegarten bestreiten. Allein die Vorankündigung zeigt Wirkung. Zum ersten Mal melden sich über 100 Besucher an. Aber was da angeboten wird, klingt auch zu verwegen. Das kann man sich nicht entgehen lassen.

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Aktoprak und Dahmen begeben sich auf eine Reise in die traditionelle Musik Anatoliens. Da hätte man sich vielleicht eine Kartenprojektion gewünscht, um ihnen auch als geografischer Schwachmat folgen zu können. Aber darauf verzichten sie. Stattdessen muss man sich auf die vagen Angaben der Moderation verlassen. So etwa, dass der Tuchtanz Tülbent oyun havasi aus Thrakien in der Westtürkei kommt. Mit Bendir, einer Handtrommel, und Klavier ist allerdings das geografische Interesse schnell vergessen. Da reicht es, dass man sich im Orient wähnt. Obwohl das mit dem Orient nicht so ganz stimmt. Denn die Arrangements der beiden mit dem Klavier klingen unter Beibehaltung des Rhythmus in der veränderten Harmonik höchst modern und erinnern an Jazz, Swing oder Blues. Das Publikum ist von dieser Mischung fasziniert.

Insbesondere, wenn der Gesang dazukommt, wie bei der Rhodos-Liturgie, im Original Rodos Semahi, einem überlieferten, alevitischen, spirituellen Lied, sind der Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt. Da fühlt man sich allein vom Klang der Stimme Aktopraks zurückversetzt in eine Zeit, die es vielleicht nie gab. Bei Hekimoglu, der Sohn des Hekim, handelt es sich um ein tradiertes Lied aus Ordu in der Schwarzmeerregion. Hier wird eine Romeo-und-Julia-Geschichte erzählt, aus der Hekimoglu als Volksheld hervorgeht, weil er von den Schergen der Gegenseite ermordet wird. Doch wer Aktoprak nur für einen Musiker hält, der sich in der türkischen Barden- und Liedermachermusik verschanzt und seine Nische gefunden hat, sieht sich enttäuscht, wenn er sehr ernsthaft darüber berichtet, dass Türken und Deutsche seit so vielen Jahren zusammenleben und es vielfach immer noch keine Übersetzungen des türkischen Liedguts ins Deutsche gibt. Ja, auch diese Sichtweise gehört zur Annäherung der Kulturen. Und Aktoprak geht mit gutem Beispiel voran.

Bei Bana seni gerek, einem spirituellen Lied nach der Lyrik des Mystikers und Dichters Yunus Emre aus dem 13. Jahrhundert stellt der Sänger den Inhalt des Liedes in deutscher Sprache als Sprechgesang zur Piano-Begleitung vor. Eine hervorragende Idee, die allerdings mit Bedacht eingesetzt werden will, soll sie sich nicht zu schnell abnutzen. Und so beschränkt sich Aktoprak auf zwei Lieder. Das allerdings ist dann mindestens so großartig wie das Lied Deniz, das Meer, zum Abschluss des ersten Teils, das Aktoprak selbst auf einen Text von Orhan Veli, einem Istanbuler Dichter des 20. Jahrhunderts, komponiert hat.

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Wer ein Konzert in der Galerie Lausberg besucht, weiß längst, dass Zeit ein sehr schwammiger Begriff ist. Ein pünktlicher Beginn ist hier genauso abwegig wie die Einhaltung der Pausendauer. So ist es auch heute Abend wieder. Für die Künstler ist das möglicherweise nicht immer ganz so angenehm, für die Besucher ist es herrlich. Bei freien Getränken in der Abenddämmerung zu plauschen, wird hier als Luxus angesehen. Und das Erstaunliche: Irgendwann finden die Gäste dann doch von ganz alleine wieder zu ihren Plätzen zurück, und es kann weitergehen.

Um den Schwung der Pause aufzunehmen, greift Aktoprak erneut zur Bendir und spielt mit Dahmen einen Reigentanz, der sich Sin sin Halayi nennt und ganz wunderbar mediterran klingt. Auch im nächsten Lied bleibt es folkloristisch. Cift Jandarma, also zwei Gendarmen, ist ein Werk aus Artvin in Nordost-Anatolien, erzählt wieder eine Liebesgeschichte. Im 7/8-Takt geht es mit Cay elinden öteye, jenseits von Cayeli, nach Rize in die Schwarzmeer-Region. Da schwingt die Poesie mit, wenn das Lied von einem erzählt, der sich in eine Teepflückerin verliebt und nun davon träumt, ihr Sammelkorb zu sein, um in ihrer Nähe zu verweilen. Melancholisch wird es bei dem Lied Ne aglarsin des Dichters und Komponisten Daimi aus Ostanatolien. Warum weinst du, Schwarzgelockte? heißt es da, ehe schon der Schlussgesang aus Mittelanatolien erklingt. Kapisina, an ihrer Tür, wird es noch einmal recht flott. Endlich darf das Publikum, das schon keinen Zwischenapplaus schuldig geblieben ist, die beiden Musiker so recht feiern, die sich mit zwei Zugaben dafür bedanken.

Wem das ein zu folkloristischer Abend war, obwohl Jürgen Dahmen nun wirklich alles am Klavier unternommen hat, um diesen Eindruck zu vermeiden, dem sei der Besuch der Galerie am 14. August empfohlen. Dann tritt – wieder einmal – das Meinhard-Siegel-Trio anlässlich eines Sommerfestes auf. Eine rechtzeitige Voranmeldung ist da wohl empfehlenswert.

Michael S. Zerban