Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
TANZABEND/N.N.
(Verena Billinger, Sebastian Schulz)
Gesehen am
17. April 2021
(Premiere am 16. April 2021/Stream)
Forum Freies Theater, Düsseldorf
Bühnenauftritte rücken in diesen Tagen in immer weitere Entfernung. Und damit schwindet auch der Optimismus der Menschen, die auf diesen Bühnen aufgetreten sind. Das ist überall zu spüren und zu hören. Eine doppelte Anstrengung, wenn man sich dann auch noch etwas einfallen lassen muss, um im Internet wahrgenommen zu werden. Die Compagnie Billinger und Schulz hat sich jetzt ein Mammutprojekt einfallen lassen, ihr Publikum gleich dreieinhalb Stunden im Netz zu binden.
Verena Billinger und Sebastian Schulz haben Angewandte Theaterwissenschaft, Tanz, Choreografie und Performance in Gießen, Frankfurt und Hildesheim studiert. Seit 2010 arbeiten sie als Choreografen mit ihrer eigenen Projekt-Compagnie vor allem in Frankfurt am Main und Düsseldorf zusammen. Jetzt also gibt es den Tanzabend/N.N. als Koproduktion mit dem Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt und dem Forum Freies Theater in Düsseldorf. Ein seltsames Werk.
Billinger und Schulz haben sich zunächst der Beliebigkeit der YouTube- oder Vimeo-Videos entzogen und präsentieren ihre Arbeit auf der eigenen Website. Hier haben sie einen Rahmen geschaffen, in dem verschiedene Videos zu sehen sind. Ein Intro zeigt ein luftgetriebenes Stehauf-Männchen in einem öffentlichen Park. Anschließend gibt es eine leichtverständliche Anleitung. Zwar haben die Programmierer eine Reihenfolge vorgegeben, die aber ist nicht verbindlich. Auch kann man die einzelnen Videos pausieren lassen. Eine Vor- oder Rückspulfunktion ist allerdings nicht vorgesehen. Da halten die Choreografen eisern an der linearen Aufführung fest.
Bildschirmfoto
Beim in der Reihenfolge zuerst vorgeschlagenen Video handelt es sich um Car Walk mit einer Länge von rund 43 Minuten. Auf dem Parkplatz der Eissporthalle in Frankfurt am Main steht eine Limousine, die am hellichten Tag von vier Schweinwerfertürmen eingesäumt ist. Aufgenommen wird das Ganze sehr modern mit einer Drohne. Für Kamera und Schnitt aller Videos ist Florian Krauß zuständig, der hier einen sehr ordentlichen Einstand gibt. Ob die Panorama-Flüge in dieser Weitschweifigkeit notwendig sind, mag dahingestellt sein, aber wer eine Drohne besitzt, die erforderlichen Erlaubnisse und Genehmigungen mühsam eingeholt hat, möchte sie auch nutzen. Eindrucksvoller ist der Einsatz „vor Ort“, wenn die Szene abgefilmt wird. Das ist wirklich ausgezeichnet gelungen. Vier Tänzer und ein Fahrer nähern sich dem Fahrzeug. Sie tragen Trainingsanzüge, Gesichtsmasken und Mützen, der Fahrer hat eine Sturmhaube über den Kopf gezogen. Spitzentanz im Tütü hätte hier ohnehin niemand erwartet, aber die überzogene Neutralität – Sandra Li Maennel stand bei allen Kostümen beratend zur Seite – ist mindestens genauso irritierend. Und wer jetzt eine tänzerische Eroberung des silbergrauen Wagens erwartet, wird genauso enttäuscht. Während der Fahrer die Richtung vorgibt, schieben die Tänzer den Wagen vor und zurück, zeigen ansatzweise ein paar akrobatische Leistungen, die sich allesamt in Grenzen halten. Ja, das ist choreografiert, ein Kraftakt für jeden einzelnen sowieso, aber tänzerisch bleibt das eine gewollte Nullnummer. Diese Idee trägt nur begrenzt, und so ist die Freude groß, als die Zeit abgelaufen ist.
Zurück im „Festivalraum“ wird als nächstes Stück ein kompletter Szenenwechsel vorgeschlagen. In angekündigten 35 Minuten soll Picknick gezeigt werden. In einem großen Raum sind drei Buffets aufgebaut, auf denen sich ein paar typische Picknick-Lebensmittel, Geschirr und Gläser finden. Umgeben sind sie von Sitzgelegenheiten von barocken Sesseln bis zum aktuellen Liegestuhl. Magdalena Dzeco sitzt im hochgeschlossenen, braunen Kleid auf einem Buffet, auf dem anderen haben Sakurako Awano und Challenge Gumbodete teilgenommen, Tänzer und Tänzerin im eher ländlichen Gewand längst vergangener Zeiten. Im Nebel, der sich im Raum ausbreitet, lassen sie die Korken knallen, stoßen freudlos mit dem Schaumwein an und schieben sich ein Stück Käse in den Mund. Im Gegensatz zum Sekt schäumt in der Laune nichts über. Das gilt auch für das „Tanzvergnügen“, das sich auf Atem- und Bewegungsübungen beschränkt. Auch als sich Camilla Fiumara hinzugesellt, ebenfalls im Dirndl, beschwingt das die Situation nicht. Kurzfristig sind alle vier Tänzer auf der Fläche, dann muss Fiumara in einen Kübel kotzen. Alles sehr professionell von der Kamera eingefangen. Stimmlose Schreiübungen zeigen den unausgesprochenen Schmerz der Tanzenden, ehe sie sich im zunehmenden Nebel wieder an die Tische zurückziehen. Den Pokal für das traurigste Picknick der Saison dürften sich Billinger und Schulz damit schon mal verdient haben.
Bildschirmfoto
Auch im dritten Stück, unbetitelt, aber dann doch in Klammern den Titel Mirror – also Spiegel – tragend, zeigt Dzeco ein Solo in einem historischen Raum. Sie arbeitet sich unter einer Spanplatte hervor, die auf der anderen Seite mit einer Spiegelfolie beklebt ist. Allmählich kommt die Tänzerin in Trainingshose mit Winterpulli und Anorak zum Vorschein, selbstverständlich mit Maske im Gesicht. Also halb im Privatleben, halb im Pflichtbewusstsein verhaftet, kämpft sie sich mit dem Spiegel durch den Raum. Gewollt uninspiriert, verschwindet sie schließlich wieder unter der Platte, deren Spiegelfläche jetzt nach oben zeigt und die Hochhäuser der Frankfurter Skyline widerspiegelt, in denen das große Geld verdient wird. Krauß, der das Schauspiel, das mehr an Kampf als an Tanz erinnert, gekonnt einfängt, lässt sich selbst im Spiegel sehen, obwohl er weiß, dass er da eigentlich nicht hingehört. Aber gehört zeitgenössischer Tanz ins Internet? Dann gehört womöglich auch der Kameramann dazu.
Die Absurdität der Tanzverweigerung im Internet findet im einstündigen Winter Song ihren Höhepunkt. In der rund einstündigen Aufführung treten Awano und Fiumara in Trainingskleidung mit Masken vor dem Gesicht und geschwärzten Wangenknochen in einem schwarz abgehängten Saal mit Sichtluken auf, in deren Hintergrund Puppenköpfe erkennbar werden. Stellvertreter für die Menschen, die in schwarze Rechtecke hineinschauen, wenn sie diese Aufführung verfolgen. Ein einstündiger Duo-Tanz ist ohnehin schon anspruchsvoll genug, aber wenn dabei kein Tanz gezeigt werden soll, wird es anstrengend. Die Tänzerinnen beginnen mit etwas, was an Tai-Chi-Übungen erinnert, gehen in streng choreografierte Bewegungen über. Zwischendurch gibt es unverständliche Laute und sirenenartiges Geheul. Krauß kommt überdies mit seiner Kameraführung immer häufiger ins Straucheln, wenn er die Distanz zu den Tänzerinnen verliert, ihren Schritt und ihre Rücken aufregender findet als die Tanzdarstellung. Die wird im Verlauf ohnehin immer anstrengender, vor allem, wenn die Bewegungsmuster martialisch werden. Die Wiederholungen häufen sich, die Ruhephasen werden länger, endlich verkriecht sich Awano unter einem Berg von Tüchern, während Fiumara mit angeflanschtem Mundstück aus einer Gasflasche inhaliert. Da geht den Tänzern in der derzeitigen Situation tatsächlich allmählich die Luft aus. Keuchend reißen sie sich hinter der Bühne die Masken vom Gesicht. Aber: Am Ende geht die Tür ins Freie auf. Und da ist so was wie Hoffnung.
Ist das Publikum der richtige Ansprechpartner für eine solche lamentatio lugubris, so berechtigt sie angesichts politischer Entscheidungen erscheint? Schwierig. Denn das Publikum ist am Ende derjenige, der den größten Schaden davonträgt. Muss es sich das vorwerfen lassen? Ein kleines Abschiedsvideo bietet keine Antwort. Und wer das alles überstanden hat, wird mit einem Zusatzvideo „belohnt“, das die ganze schöne Konstruktion auch noch zum Einsturz bringt. Denn wer hier auf „Anschauen“ klickt, hängt in einer Schleife, aus der er nur noch herauskommt, indem er die Website wegklickt. Ein nachträglicher Blick auf die Credits bleibt damit ebenso verwehrt wie die Möglichkeit, sich ein Video vielleicht noch einmal anzuschauen.
Am Ende bleibt ein mulmiges Gefühl. Da hatte man sich auf einen Tanzabend gefreut, der einem letztlich den Kloß im Hals bereitet. Immerhin haben Billinger und Schulz gezeigt, dass sie sehr wohl in der Lage sind, Kultur internetgerecht aufzubereiten. Und da möchte man ihnen doch zurufen: Mehr davon!
Michael S. Zerban