O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Kamila Kurczewski

Aktuelle Aufführungen

Unerwartete Dystopie

SOUNDS
(Ingo Toben)

Besuch am
4. März 2022
(Uraufführung)

 

Forum Freies Theater, Düsseldorf, Bühne II

Man lernt nicht aus. Eigentlich könnte man doch davon ausgehen, dass bei den Schülern Nationalitäten- oder Herkunftsfragen keine Rolle mehr spielen. Schließlich wachsen sie mit den unterschiedlichsten Nationen auf und haben gar nichts anderes kennengelernt. Aber offenbar ist das Bild doch nicht so ungetrübt wie angenommen.

Der Düsseldorfer Regisseur Ingo Toben hat gemeinsam mit geflüchteten Jugendlichen ein Stück erarbeitet, das im Forum Freies Theater auf der kleineren Bühne uraufgeführt wird. Dabei folgt er seinem Verständnis, dass Musik Biografien präge. „Sie verknüpft sich mit persönlichen Erlebnissen, bildet Identität und Zugehörigkeit und drückt aus, wer wir sind“, ist auf dem Abendzettel zu lesen. Das kann man in dieser Absolutheit sicher diskutieren. Für Sounds – also Geräusche oder Klänge – hat das zur Konsequenz, dass die Musik der Jugendlichen in den Vordergrund rückt. Interessanter an dem Abend ist allerdings, was Autorin Anke Platon in Recherchen und Interviews herausgefunden und zu Texten verarbeitet hat. Obwohl der Begriff Texte hier vielleicht sehr hoch gegriffen ist. Vielmehr sind Schnipsel, Gedankenfetzen und kurze, unfertige Erzählungen für den Abend übriggeblieben. Die allerdings stürzen den Besucher in eine völlig unerwartete Dystopie.

Dass Jugendliche in ihren Gefühlen unsicher sind, gehört zum Erwachsenwerden. Und dass Jugendliche, die seit frühester Kindheit Erfahrungen mit einem kriegerischen oder mindestens existenziell bedrohlichen Umfeld sammeln mussten, auch in einer neuen Heimat noch von Sehnsucht zerfressen sind, weil sie kein Urvertrauen aufbauen konnten, liegt nahe. Was aber macht das mit ihnen, wenn sie in der neuen Heimat ebenfalls auf Ablehnung stoßen? Die große Hoffnung der Eltern auf Frieden und eine bessere Zukunft sich scheinbar im täglichen Erleben in Luft auflöst? Da dürfte so manchem schon in jungen Jahren psychisch die Puste ausgehen.

Joachim Brodin und Malin Speicher haben im Raum der Bühne II die klassische Aufführungssituation aufgehoben. An den Rändern sind zahlreiche Tische mit allerlei Geräten aufgebaut, die der Aufführung elektronischer Musik dienen. Die Raummitte ist mit schwarzen Gaze-Vorhängen unterteilt. Sitzgelegenheiten gibt es für die Besucher keine, was bei einem jugendlichen Publikum für eine Veranstaltung, die gerade eine dreiviertel Stunde dauert, sicher auch keine Rolle spielt. Tobias Heide setzt starke Lichtreflexe, die an die Atmosphäre in einem Club sicher bewusst erinnern sollen.

Foto © Kamila Kurczewski

Gulhan Abdo, Ahmad Abdullah Yaseen, Mohammad Ali, Pooriya Alizadeh, Aya Bajiou Bloujiloud, Shahrokh Chirudaghai, Abdul Rahim Gul Ahmad und Mohammad Amin Mohammad Shufiei mischen sich unter das Publikum und treten nur dann an die Pulte, wenn ihr Einsatz gefordert ist.

Toben, der sich der Minderheit angehörig fühlt, die sprachlich genitale Lagerspaltung betreiben will, anstatt sich im gesellschaftlichen Diskurs an die geltenden Regeln der deutschen Sprache zu halten, scheint überdies wenig Wert auf Sprache zu legen. Oder soll es besonders authentisch wirken, wenn die Jugendlichen ihre Texte in permanent falscher Intonation vortragen? Auf den Hörer wirkt es eher, als würden hier Klischees bedient, die der Sache kaum behilflich sind – oder die Akteure besonders lustlos sind, was nun wirklich niemand glauben will. Die Texte erzählen viel von Einsamkeit, geradezu von einer Flucht in Musik, von Sprachlosigkeit und von gesellschaftlicher Ablehnung. Das deckt sich nicht mit der täglich erlebten Wirklichkeit des Publikums, aber was heißt das schon?

Die Textpassagen werden eingebettet in die elektronische Musik von Raphaela Andrade Cordova und Christoph Grothaus. Lukas Lohner sorgt dabei für die richtige Klangmischung. Den jungen Akteuren bereitet es sichtlich Spaß, auf Computern Klänge zu erzeugen. Da wird es richtig laut, hämmernd, aber es bleibt vergleichsweise beliebige Computermusik. Neues oder gar Aufregendes ist da kaum zu entdecken. Und so lässt man die Frequenzänderungen über sich ergehen, obwohl man in der Zeit gern mehr über die Befindlichkeiten der jugendlichen Geflüchteten erfahren hätte.

Dass in der deutschen Gesellschaft nicht erst seit gestern ziemlich viel falsch läuft, ist ein offenes Geheimnis. Toben legt allerdings hier den Finger in eine Wunde, von der wir nicht wussten, dass es sie gibt. Der Applaus feiert kurz die Leistungen der Akteure, den Befund des Abends sicher nicht.

Michael S. Zerban