O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Farben des Belcanto

LA SONNAMBULA
(Vincenzo Bellini)

Besuch am
26. Februar 2023
(Premiere)

 

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Oper Düsseldorf

In Steven Soderbergh Psychopharmaka-Thriller Side Effects wird die wegen Depressionen und Suizidgefahr behandelte Protagonistin Emily Taylor vom Vorwurf der Ermordung ihres Mannes freigesprochen. Die Geschworenen erkennen sie für schuldunfähig, weil sie die Tat im Schlafwandeln begangen habe, eine Nebenwirkung eines bestimmten Medikaments. Side effects, Nebenwirkungen, wie sie glauben. Später stellt sich das Ganze als fingiert heraus, Kern eines perfiden Plans aus niedrigen Beweggründen.

In Vincenco Bellinis Belcanto-Klassiker La sonnambula, uraufgeführt 1831 in Mailand, dreht sich das Geschehen zwar auch um das Schlafwandeln. Jedoch sind die Folgen weniger gravierend, eher willkommen. Die mit einem Albtraum beginnende Geschichte aufzugreifen, die Kundige an die TV-Serie Zwischen Tüll und Tränen erinnern könnte, kann sich auch als Glücksgriff erweisen. Johannes Eraths Neuinszenierung an der Düsseldorfer Oper erreicht eine emotionale Verdichtung, die dank einer innovativen Bildsprache und einer eigenwilligen Personenregie aus einem gefälligen Opernabend ein sinnliches Erlebnis macht. Die Deutsche Oper am Rhein hat mit ihr Karten auf der Hand, mit denen sie in einer Phase punkten kann, in der die Kunst der Oper und ihre Institutionen eine neuerliche Bestätigung durch das Publikum dringend brauchen.

Die junge Amina, als Waisenkind aufgewachsen und eine Außenseiterin in der ländlichen Gesellschaft, offenbart nachtwandelnd auf dem Dach ihre Liebe zu Elvino, dem reichsten Bauern der Gegend. Sie konterkariert so den Verdacht der Untreue mit dem Grafen Rodolfo, dem es zuvor nicht gelungen ist, ihre Unschuld glaubhaft zu machen. Die Hochzeitsfeierlichkeiten, Rahmenhandlung des etwas befremdlichen Schauerstücks im Stil des Melodramma, können weitergehen. Und in ihrer musikalischen Verführungspracht genossen werden, anders als Soderberghs Pharmathriller.

Die hochromantische Semiseria ist einer der vier Fixsterne am Belcanto-Himmel Bellinis und die fünfte von insgesamt sieben seiner Kooperationen mit dem Textdichter Felice Romani. Seit dem Premierenerfolg mit der Primadonna Giuditta Pasta und dem gefragten Tenor Giovanni Battista Rubini – beide sollen in der ersten wie in Folgeaufführungen noch auf der Bühne in Tränen ausgebrochen sein – gehört sie zu den Kernstücken des Repertoires mit lückenloser Aufführungstradition. Unter Opern-Afficionados ist sie beliebt, weil sie im Sinne des „absoluten Vorrangs der menschlichen Stimme“ Metastasios Melodien und ausgedehnte Gesangslinien von größter Empfindsamkeit und kompositorischer Virtuosität enthält. Weil sie der Kultur des artifiziellen Gesangs unter Aufbrechen der Grenzen zwischen Arie, Ensemble und Chor optimale Voraussetzungen zur Steigerung und Vollendung ihrer Stilistik bietet.

Exemplarisch hierfür mag Elvinos Auftrittsarie Prendi: L’anel ti dono gelten. Sie schraubt sich in mehreren Stufen über die integrierte Sopranstimme der Amina, ein Duett mit dem Chor zu Elvinos Cabaletta Tutto, ah tutto in quest’istante hoch. Spätestens mit ihrem Verglühen ist die Düsseldorfer Aufführung mit den samten einsetzenden, Fahrt aufnehmenden und erste vokale Gipfel erreichenden Akteuren auf der Bühne wie auf einem talwärts fahrenden Schlitten unterwegs, dessen glänzende Kufen blitzen.

Die sonderbare Geschichte von der „höheren“ Fügung spielt in einem abgelegenen Flecken in den Schweizer Alpen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Dorfgesellschaft existiert in doppelter Ausprägung, ist Ort und Zeuge der Hochzeitsfeierlichkeiten und gnadenloser Richter über das, was sie für Moral hält. Regisseur Erath räumt mit der Dorfidylle der Vorlage Romanis konsequent auf. Es gibt keine blankgescheuerten Holztische, Zapfhähne, Dirndl und Strohhüte, wie in Michael Sturmingers Fassung 2016 im Münchner Theater am Gärtnerplatz. Hirschgeweihe wie andere Insignien von Jägern und Bauern werden einmal an der Hochzeitsgesellschaft entlang demonstrativ vorbeigeführt. Doch täuscht die Optik, da es sich um eine satirische Verfremdung handelt. Ähnlich verhält es sich mit den Lederhosen unterhalb der nackten Oberkörper einiger junger Burschen. Sie stehen aber in erster Linie für die Lesart, dass auch hier eine Macho-Gesellschaft existiert, die keine Probleme kennt mit derber sexueller Anmache.

La Sonnambula ist – Kitsch hin, Kolportage her – der Traum in zahlreichen Varianten. Ein Verweilen zwischen Magie, Suggestion, Kontrollverlust. Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein, singen Sophie und Octavian ineinander versunken im Rosenkavalier. Aus einem solchen Axiom baut sich auch Eraths Regiekonzept auf. Es will weniger der Geschichte in ihren Verästelungen von einst – Rodolfos Verbindung zu Amina – und jetzt – Elvinos Beziehung zu Amina, der er Verrat und Betrug zugetraut hat – nachspüren. Vielmehr will es von der Imagination erzählen, die die Musik vermittelt. Präziser gesagt, rückt die Inszenierung mit einer besonderen Raum- und Bildsprache Bellinis Musik, seine Kunst der Tonmalerei, die „Farben“ seiner Arien, Kavatinen und Koloraturgirlanden in das Zentrum.

Dominierende Farbe der Dorfgesellschaft ist das Lila der Kostüme von Jorge Jara, gegen das sich das Weiß der Hochzeitskleider kontrastreich abhebt. Der Plural ist zutreffend. Denn auch die Gastwirtin Lisa, die sich Chancen bei Elvino ausrechnet, trägt anfänglich ein solches. In dem stimmt Heidi-Elisabeth Meier mit ihrer erfrischend vorgetragenen Sopran-Arie Tutto è gioia, tutto è festa auf die kommende Festivität ein. Die Brautkleider sind selbst auch ein „ambulantes“ Phänomen. Sie „wandern“ durch die Hochzeitsgesellschaft. Das widerfährt auch Amina, die Erath, seiner Vorliebe der Verdopplung von Personen folgend, analytisch in eine entrückte und eine agierende Braut aufteilt. Zuletzt ist dieser Effekt ein Element seiner Inszenierung von Jules Massenets Manon in Köln.

Die von Bernhard Hammer gestaltete Bühne verstärkt im Tandem mit der fantasievollen Videokunst von Bibi Abe die suggestive Wirkung um ein Vielfaches. Es gibt eine vordere, karg möblierte Ebene und darüber eine Empore oder Oberbühne mit angedeuteten Zuschauerplätzen, der Nicol Hungsbergs Lichtdesign Erleuchtung nur sparsam schenkt. Amina ist hier im Finale mit ihrer Traum- oder Wahnsinnsszene Ah!non credeamirarti/Ah! Non giunge uman pensiero unterwegs, verhalten schreitend, plötzlich verharrend, was die ganze Fragilität dieser Figur illustriert. Die schwarzweiß gehaltenen Videos auf der Oberbühne begleiten, betonen, stilisieren oder akzentuieren durch slow motion das Geschehen unten, was das Surreale der Szene wie der Inszenierung verstärkt. Opernausstattung mutiert zum Opern-Kino.

Eraths Personenregie legt es bisweilen darauf an, das Mystische des Melodrammas noch zu verstärken. Der Chor agiert häufig in choreografischen Verdichtungen, die Züge einer Ballett- oder Musical-Aufführung aufweisen. Eine Balletttänzerin quert die Bühne auf Spitze, was den tänzerischen Hintergrund der literarischen Vorlage aufnimmt.

Der Belcanto wird durch eine spezielle Gesangstechnik zur Kunst, die sich durch ausgeglichenes Stimmregister über die gesamte Tessitur, ein konsequentes Legato, ausgefeilte Melismen, Messa da voce sowie die Ornamentik der Stimme auszeichnet. Sie ist nur durch ein intensives, fokussiertes Training erreichbar. Es ist schon erstaunlich, dass zumindest zwei der drei Sänger in den Hauptpartien dieser Kunst ein Stück weit nahekommen. Bogdan Taloș, noch als kerniger Banco in Verdis Macbeth in Duisburg im Ohr, überzeugt als Rodolfo mit geradlinigen, edlen Melodiebögen in bester Legato-Kultur. Edgardo Rocha ist als Elvino ein Tenor spinto, der durch Stimmvolumen, Mühelosigkeit im Erreichen des obersten Registers und Mannigfaltigkeit in den Modulationen überzeugt. Da verzeiht man ihm fast schon die Ruppigkeit, mit der er Amina vor dem lieto fine behandelt.

Die Partie der Amina nimmt in der Geschichte der Oper eine Sonderstellung ein. Erstmals bekommen die Koloraturen der Primadonna auch eine dramaturgische Funktion. Die Figur ist zwar verletzlich, doch weist die Partie neben den lyrischen dramatische bis hysterische Züge auf, die sich in reiner Form mit den Stimmen von Joan Sutherland und Maria Callas verbinden. Die Sopranistin Stacey Alleaume müht sich bei ihrem Rollen- und Hausdebüt über weite Strecken des ersten Aufzugs in die Anforderungen der Partie der Amina. Sie „erarbeitet“ sich die Spitzentöne und Koloraturmassive, auch über das hohe C hinaus, was den verlangten weichen Ton des Belcanto quasi automatisch verfehlt. In der Folge steigert sie sich, aufblühend auch durch ihr beherztes und mitreißendes Spiel, in eine packende, in der Mittellage einschmeichelnde Tongebung. Gewiss eine Weiterentwicklung seit ihrer Gilda im Rigoletto bei den Bregenzer Festspielen 2019 und 2021.

Leider wird das Brio der Hauptpartien von der Mezzosopranistin Katarzyna Kuncio gedämpft, die die Rolle der Müllerin Teresa mit Hang zum störenden Vibrato gestaltet. Seine besten Szenen hat der Chor in kompakter Aufstellung mit großer Dynamik in Mimik und Bewegung.

Antonino Fogliani am Pult der Düsseldorfer Symphoniker schafft es weitestgehend, die Balance zwischen den Choristen und den Könnern im Graben wie auf der Bühne zu wahren. Dabei kommt ihm, seit Jahren Künstlerischer Leiter des Festivals Rossini in Wildbad, sein fundamentales Gespür für die Italianità und den Belcanto zugute.

Tosender Beifall, lediglich von einigen BuhRufen durchsetzt, prasselt am Ende auf das fünfköpfige Team um Erath herab, nachdem das Publikum zuvor die Künstler auf der Bühne und im Orchestergraben minutenlang gefeiert hat. Opernregie heute, selten geliebt, immer wieder unter dem Rubrum Regietheater scharf kritisiert, im Mainstream von Begeisterung und Anerkennung! Ein Momentum, das festzuhalten verdient.

Ralf Siepmann