O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Unverständlich, aber stimmgewaltig

SINGING FUTURE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
12. November 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Neanderkirche, Düsseldorf

Dicht an dicht drängen Menschen durch die Straßen der Düsseldorfer Altstadt. Es ist früher Samstagabend. Bürger der Landeshauptstadt sind hier wohl eher wenige zu finden. In jungen Jahren machte einem dieses Gewusel nicht viel aus, aber vielleicht stecken auch die Ängste vor Infektionen enger unter der Haut, als man wahrhaben möchte. Jetzt wünscht man sich doch, die Grippeimpfung für dieses Jahr schon mal früher abgeholt zu haben. Ausweichen kann man dem Geschehen nicht, wenn man der Einladung Irene Kurkas folgen möchte. Die hat in die Neanderkirche gerufen, die etwas versteckt an der Bolker Straße liegt, einer der Hauptachsen in der Altstadt.

Salome Kammer – Foto © O-Ton

Die Sopranistin Irene Kurka gilt als eine der wichtigsten Interpreten neuer Musik. Bereits über 280 Uraufführungen hat sie nach eigenen Angaben gesungen. Im vergangenen Jahr veranstaltete sie zum ersten Mal ihr „Minifestival“ Singing Future – ein Festival an einem Abend. In diesem Jahr folgt also nun die zweite Ausgabe, diesmal ist Salome Kammer zu Gast, die längst in München lebt. Sie studierte Cello, wurde Schauspielerin und entdeckte schließlich ihre Liebe zum Gesang neuer Musik, gilt inzwischen als Spezialistin. Gemeinsam mit Kurka hat sie ein Programm ausgearbeitet, das Kurka als „lange Nacht“ ankündigt. Glücklicherweise beschränkt sich die lange Nacht auf zwei Stunden, sind doch weder Pausen noch eine gastronomische Versorgung vorgesehen.

2002 wurde die 20-teilige Arbeit Der Turm zu Babel – Melodien für eine Solostimme von Mauricio Kagel veröffentlicht, die dieser als Auftrag des ARD-Wettbewerbs anfertigte. In Auszüge dieser Komposition ist das Programm des Abends eingebettet. Das mit der Solostimme ist relativ. Kurka hat nämlich zusätzlich das Ensemble Diva eingeladen. Dessen Leiterin, Barbara Beckmann, und Frauke Mantica eröffnen den Abend mit dem deutschen und dem griechischen Teil von Kagels Arbeit. Ist hier theoretisch noch Textverständlichkeit gegeben, erledigt sich das bereits in der nächsten Nummer. 1916 wurde das Cabaret Voltaire in Leipzig gegründet. Hier wollten die Dadaisten weg vom Wort und nur noch Klang und Laut produzieren. Einer von ihnen war Hugo Ball, der sechs Laut- und Klanggedichte verfasste. Die trägt Kammer vor und bereitet damit den Weg für den Rest des Abends.

Farzia Fallah – Foto © O-Ton

Ehe aber die Stimme ganz das Wort außer Acht lässt, gibt es eine Uraufführung. Farzia Fallah hat das Werk a la garganta – auf Deutsch könnte man es etwa „in die Kehle“ übersetzen – für zwei Frauenstimmen in Farsi komponiert, das von Kammer und Kurka interpretiert wird. Entstanden ist das brandaktuelle Stück vor dem Hintergrund der Proteste im Iran, während sich Fallah in Teheran aufhielt. Sie greift dabei auf Gedichtzeilen von Federico Garcia Lorca und ein persisches Gedicht aus dem 20. Jahrhundert zurück. Entstanden ist ein Werk, das nach Kälte, aber auch Hilflosigkeit oder besser Ohnmacht klingt. Nach einem weiteren Kagel-Einschub in niederländischer, englischer und französischer Sprache gibt das Ensemble Diva ein Beispiel seiner eigentlichen Arbeit. Diva steht nämlich für Düsseldorfer Impro Voices und hat sich darauf spezialisiert, neue Musik zu improvisieren, was zunächst mal ein Widerspruch in sich zu sein scheint, kommt es doch gerade in der neuen Musik auf jede Notation und deren Einhaltung an. Tatsächlich wird an diesem Abend auch keine bereits vorhandene Musik interpretiert, sondern mit In Lebensgefräßigkeit eine Uraufführung von Beckmann präsentiert. Neben Beckmann und Mantica kommen nun auch noch Agnes Meret Wimmer, Christine Rademacher und Claudia Brandt hinzu, um eine Art gesungene Diskussion erklingen zu lassen. Ein weiterer Kagel-Einschub, diesmal auf Japanisch, Polnisch und Italienisch, führt zu den Maalaischen Liebesliedern von Gerhard Stäbler, bei denen Kurka ihre Stimme zunächst mit einem Sprechrohr, später mit einem Teller voller Wasser und Holzlöffeln kombiniert. Ein Zusammenhang mit den Titeln Wo ist die Quelle, die immer singt, Ich liebe dich und Es wühlt der Wind; Nachklang erschließt sich dem Hörer nicht unmittelbar, trotzdem wird auch dieses Stück ein Klangerlebnis.

Bei den Schweigebildern von Charlotte Seither gerät Kammer dann doch sehr in die Nähe von Hurz, wenn kurzes Flüstern in Verbindung mit Geräuschen beständig wiederholt wird. Da wird es bei den Transformationen von Iris ter Schiphorst doch wieder ein wenig substanzieller. Hier wird das Gedicht Diepe Tijd – Tiefenzeit – von Dominique de Groen als Einspielung vorgetragen, während Kammer und Kurka mit ihrem Stimmen Lautmalerei betreiben. Feldaufnahmen von einer Wasserstelle mit Fröschen ergänzen den Vortrag. Hier ist dann auch noch einmal die volle Konzentration von Carter Williams vonnöten, der die Tontechnik besorgt. Das Finale bestreiten alle Anwesenden auf der Bühne mit der Uraufführung des schönen Titels Vom Röcheln der Diva, den Kammer eigens für dieses Konzert komponiert hat.

Es dauert eine Weile, bis man sich damit abfindet, dass man Texte an diesem Abend sowieso nicht verstehen wird. Dann allerdings kann man sich umso intensiver auf die Lautmalerei, die hier so kunstvoll betrieben wird, konzentrieren. Immerhin rund 30 Menschen haben sich in den Kirchenbänken versammelt, um das zu erleben, und man kann dort eine Stecknadel fallen hören, so sehr vertieft sich das Publikum in das Geschehen. Das erlebt man selten. Der Schlussapplaus fällt kurz, aber herzlich aus. Nach dem Konzert scheinen noch eine Menge Fragen offengeblieben zu sein, denn das Publikum sucht das Gespräch mit den Künstlern und verweilt gerne noch ein wenig, ehe es sich wieder in diese andere Welt der Altstadt begibt, um nach Hause zu kommen.

Michael S. Zerban