Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
SACRE
(Jerome Robbins, Demis Volpi, Marcos Morau)
Besuch am
29. April 2023
(Premiere)
Das Wort „Sacre“ übt auf Ballettfreunde eine geradezu magische Wirkung aus. Igor Strawinskys mittlerweile 110 Jahre altes Tanzstück Le Sacre du Printemps hat nichts von seiner explosiven Schlagkraft verloren, mit der es einst mit skandalträchtiger Radikalität die Türen zu einem modernen Tanzstil öffnete. Demis Volpi, Direktor des Balletts am Rhein, kombiniert in seinem jüngsten Programm diesen Kracher unter dem Titel Sacre mit zwei Choreografien von Jerome Robbins und sich selbst, die zwar einen bunten, abwechslungsreichen Abend garantieren, sich thematisch aber nur krampfhaft zusammenfügen lassen.
Gleichwohl: Das Düsseldorfer Premierenpublikum zeigt sich von allen drei Kreationen hellauf begeistert, auch vom Kernstück des Abends, Strawinskys Meilenstein in einer neuen Deutung des jungen spanischen Choreografen Marcos Morau. Und das, obwohl seine Arbeit mehr visuell als tänzerisch überzeugt. Optisch zieht ein gewaltiges, schräg ansteigendes Felsmassiv von Bühnenbildner Max Glaenzel die Blicke auf sich, das imponiert, aber die Bewegungsfreiheit der Tänzer stark einschränkt. Im Dämmerlicht von Marc Salicrú sieht man, wie 16 dunkel gekleidete Tänzer wie Nachfahren des Sisyphos versuchen, die Schräge emporzukriechen. Meist vergeblich und immer wieder zurückrollend. Um ein Menschenopfer zu Ehren der Frühlingsgötter geht es Morau nicht. Die Welt befindet sich bei ihm in einer Endzeitstimmung. Die Menschen quälen sich gegenseitig, um am Ende in einer Art gemeinschaftlichen Suizids, teils freiwillig, teils mit Nachhilfe, vom Fels in den Tod zu springen. Hoffnung auf die Lebenskräfte des Frühlings kann und soll in dieser düsteren Szenerie nicht aufkommen. Eine Arbeit, die durch ihre visuelle Wucht beeindruckt, auch wenn die vitale Musik Strawinskys etwas anderes als selbstzerstörerische Resignation ausdrückt. Und tänzerisch fällt Morau nicht allzu viel ein. Man bewegt sich zuckend zu den rhythmischen Eruptionen der Musik, kriecht oft auf allen Vieren, geht sich bisweilen gegenseitig an die Gurgel und hüpft am Ende vom Plateau.
Foto © Bettina Stöß
Da halten die Tanzlegende Jerome Robbins und der Düsseldorfer Ballettchef Demis Volpi schon fantasiereichere Aufgaben für die Compagnie bereit. Taufrisch und besonders originell Jerome Robbins in seiner mittlerweile über 70 Jahre alten Arbeit The Cage – der Käfig. Unter einem spinnennetzartigen Geflecht residiert eine amazonenhafte Gemeinschaft von vierzehn männerhassen- und mordenden Frauen. Zwei eindringende Männer verunsichern die Gefühlswelt der Königin und einer neu hinzugestoßenen Novizin, was den Männern freilich nicht das Leben rettet.
Unter dem von Jean Rosenthal gespannten Netz bewegen sich die Figuren animalisch wie Insekten. Mit starr abgewinkelten, zuckenden Gliedern, mehr staksend als gehend. All das von der Düsseldorfer Compagnie vorzüglich ausgeführt. Zu der wenig charmanten Handlung scheint Igor Strawinskys neoklassizistisch helltönendes Concerto in D auf den ersten Blick nicht so recht zu passen. Auf den zweiten Blick wird dadurch jedoch die Künstlichkeit der Bewegungen unterstrichen, wodurch der Handlung auch der Boden überfrachteter Pathetik entzogen wird. Anders als Moraus Sacre-Deutung, die sich nahtlos in eine schicksalsschwangere Fantasy-Saga Hollywoods einfügen ließe.
Ob und zu welchem Zweck die Männer bei Robbins geopfert werden, bleibt allerdings so unklar wie bei Morau. Noch schwerer lässt sich Demis Volpis neues Stück The Thing With Feathers in das Sacre-Motto einordnen. Entfernt vielfach durch die Wahl der Musik mit Richard Strauss‘ Elegie auf das Ende des Zweiten Weltkriegs, die ergreifenden Metamorphosen für 23 Solo-Streicher, die die Düsseldorfer Symphoniker unter Leitung von Vital Alekseenok erheblich inspirierter und präziser zum Klingen bringen als die Strawinsky-Beiträge.
Tänzerisch bieten Volpi und seine Compagnie allerdings Preziosen vom Feinsten. In eher unscheinbarer Alltagskleidung rollt sich eine Revue zahlreicher kleiner Szenen zwischenmenschlicher Beziehungen in unterschiedlichen Formationen ab. Solo-Stücke, Pas de Deux‘, Pas de Trois‘ und vieles mehr. Dankbares Futter für die Künste der Tänzer, wenn auch in eine nur lose Konzeption mit kaum zu erahnendem Bezug zum Thema. Als Demonstration für die Leistungsfähigkeit des Balletts am Rhein bietet es allerdings eine geeignete Vorlage.
Insgesamt also ein spannender, etwas heterogener Abend auf hohem tänzerischem Niveau.
Pedro Obiera