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Starke Frauen

REVENANTS
(Ursina Tossi)

Gesehen am
29. April 2021
(Video on Demand)

 

Tanz NRW 21, Tanzhaus NRW, Düsseldorf

Der zweite Tag des Festivals Tanz NRW 21 ist angebrochen. Und bringt gleich zu Anfang so manche Tücke für den ungeübten Besucher. Am Vorabend hat er gelernt, dass die Live-Übertragung noch für einige Stunden „on demand“, also abrufbar bleibt. Jetzt muss er lernen, dass das ein Einzelfall war. Das ist blöd, wenn man sich für die „falsche“ von den drei Aufführungen des heutigen Abends entschieden hat. Denn dann entfallen die anderen beiden, eine davon unwiederbringlich. Und es geht noch komplizierter. Wer sich an diesem Abend für Revenants entscheidet, dem fällt der Zusatz audio description auf. Ist ja kein Problem, mag man sich denken, die schaltet man halt weg. Da sind die Veranstalter aber schlauer. Die haben nämlich weiter hinten in der Auswahlliste noch ein Video ohne die Hörbeschreibung eingestellt. Das ist ziemlich schlau; zu schlau für den Besucher, dem in seiner Not nichts anderes bleibt, als den Ton wegzuschalten, wenn er nicht den ganzen Abend auf Englisch zugebrabbelt werden will. Und die Sprachverwirrung geht weiter. In Nordrhein-Westfalen ist Englisch keine zweite Amtssprache – es darf also auch von keinem Nordrhein-Westfalen verlangt werden, dass er des Englischen mächtig ist. Dass die Stückbeschreibung bei Dringeblieben englisch ist, zeigt also entweder, dass die Veranstalter in einer Blase leben, die einen Blick auf den nordrhein-westfälischen Besucher nicht erlaubt, oder der Veranstalter sich nur für Sprachkundige zuständig fühlt. Immerhin ist eine deutsche Stückbeschreibung auf der Website von Tanz NRW 21 zu finden – man muss halt drauf kommen.

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Trotzdem bleibt die Entscheidung, sich Revenants – also Wiedergänger – von Ursina Tossi anzuschauen, die richtige. Die Choreografin „lässt in Revenants Gespenster los, die einen weiblichen Blick auf Politik und (Pop-)Kultur fordern“. Das geht genauso aus der Stückbeschreibung hervor wie die Aussage, sie fänden „neue feministische Erzählungen für das Geschehene“. Wenn das so ist, kann man wohl ziemlich froh sein, die vergangenen Jahrhunderte nicht im Matriarchat zugebracht zu haben. Hanna Lenz lässt die Bühne leer bis auf einen Fellberg rechts im Vordergrund. Einige Projektionen auf die Wand im Hintergrund werden später eher dekorativen Charakter haben. Und auch rosafarbener „Schleim“ wird erst kurz vor Ende in der linken Bühnenhälfte aufgetragen werden. Es wird also rau werden. Dafür spricht auch eher trübes Licht von Ricarda Schnoor, das zwischendurch immer mal wieder ganz erlischt, die Tänzerinnen aber sonst gut erkennbar lässt. Es gab halt keine Straßenlaternen in der fernen, düsteren Vergangenheit. Eine eindrucksvolle Atmosphäre, in der die Kostüme von Nina Divitschek richtig Spaß machen. Die trendige Asexualität, die sich gerade auf deutschen Bühnen auszubreiten scheint, spielt hier keine Rolle. Wenn die Tänzerinnen denn überhaupt etwas am Körper tragen, erinnern sie an Amazonen, Gladiatoren oder Steinzeitmenschen. Die Kleiderfetzen sind auf die Körper und das Geschehen zugeschnitten. Hier ist kein Riemchen, kein Fetzen Stoff unüberlegt auf den Körper gebracht. Solche Kleidungsstücke werden normalerweise von berühmten Mode-Designern entworfen, wenn sie als Kostümbildner gewonnen werden können. Mindestens so eindrucksvoll ist die Nacktheit, mit der die Tänzerinnen agieren. Sie unterstreichen selbstbewusst und selbstverständlich das Amazonenhafte, das die „Handlung“ verlangt.

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Wäre die Vergangenheit von Frauen gestaltet worden, so scheint es an diesem Abend, wäre es um einiges brutaler abgelaufen. In einem Zustand zwischen Mensch und Tier liefern sich die Tänzerinnen Rachell Bo Clark, Julia B. Laperrière, Amanda Romero, Leah Marojevic und Rose Marie Lindstroem Schaukämpfe vom Härtesten, wobei die Rollen immer wieder neu verteilt werden. Mal tritt die Gruppe als „Armee“ auf, mal kämpfen die Tänzerinnen jede gegen jede. Dazu entwickelt Tossi eine Bewegungssprache zwischen Comic und Robotik. Überraschend sorgt das weniger für Klamauk – das kommt erst später, als es zwischenzeitlich wie in einem Film mit Bud Spencer und Terence Hill zugeht – sondern reizt den Geist, sich die tatsächlichen Ausführungen der Bewegungen vorzustellen. Und die gingen vermutlich ziemlich blutig aus. Später verharren die Sieger stehend gegenüber den sitzenden Opfern in tableaux vivants, was den Eindruck der Unbedingtheit noch einmal verstärkt. Aber auch Frauen verzichten nicht auf die Siegesfeier, auf das Gelage, bei dem man sich in Felle kleidet. Und solch ein Gelage ist dann vegan. Nicht genug für Romero, die sich zurückzieht, um ein Tier auszuweiden und das rohe Fleisch zu genießen. Auch der Sex hätte bei den Frauen jener Zeit stattgefunden, den Tossi zunächst unter einer blauen Folie andeuten lässt. Im Schlussbild dürfen sich die dann nackten Körper im rosafarbenen „Schleim“ umeinander winden, ehe sie sich erheben und sich Hand in Hand vorsichtig aus der glitschigen Situation befreien.

Tossi hat ein recht handfestes Frauenbild, dass sich dem Männerbild erfreulich annähert. Nein, sinnloses Töten wäre – aus der Zeit herausgelöst – kein Monopol der Männer gewesen. Ebenso wenig wie ausgelassene Feiern oder kurze, verträumte Momente. Die Choreografin will nicht auf die Unterschiede hinaus, sondern das starke Selbstbewusstsein der Frauen zeichnen, das zu denselben Taten wie denen der Männer fähig wäre. Aber sie klagt nicht, klagt nicht an. Moderne Frauen können sich hier vermutlich – vielleicht mit einem Augenzwinkern – wiederfinden, moderne Männer wussten ohnehin schon immer, dass es sich so verhält.

Tossi hat mit ihrem Team hier wirklich ein starkes Stück Tanztheater entwickelt. Und die Macher von Tanz NRW 21 haben entschieden, es noch ein paar Mal während des Festivals zu zeigen. Gratulation dazu beiden und an den Besucher der Warnhinweis, darauf zu achten, dass er den Stream ohne Hörbeschreibung erwischt.

Michael S. Zerban