O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Klaus Handner

Aktuelle Aufführungen

Überwältigende Präzision

PRÄLUDIUM DER KÄLTE
(Maura Morales)

Besuch am
4. Dezember 2021
(Premiere am 3. Dezember 2021)

 

Forum Freies Theater, Düsseldorf

Nun ist also das Forum Freies Theater in den frisch sanierten Räumen im ehemaligen Posthochhaus am Konrad-Adenauer-Platz 1 mit dem originellen Namen KAP1 angekommen. Eine neue Website gab’s dazu, aber die strotzt dermaßen vor Rechtschreibfehlern, dass man sie als potenzieller Besucher meiden sollte, wenn man nicht gleich wieder die Lust am Theater verlieren will. Und das wäre schade drum. Denn die neuen Räumlichkeiten sind vielversprechend. Großzügig, aber nicht protzig. Entweder über das Treppenhaus oder über die Aufzüge erreicht man die Rezeption, von der es links zur Verwaltung und den Probenräumen sowie einer Studiobühne geht, rechts gelangt man ins Foyer mit einer kleinen Bühne und einer Bar sowie dem Zugang zum großen Saal, der Bühne 1. Eine Garderobe gibt es nicht, stattdessen können die Besucher ihre Mäntel an einer Wand im Foyer anketten. Das Licht hier ist sicher noch verbesserungswürdig. Ständig sitzt oder steht man irgendwo im Scheinwerferlicht. Das mag dem einen oder anderen gefallen, aber insgesamt steht der Blendungseffekt im Vordergrund. Hier und da werden sicher auch noch ein paar Schilder aufgehängt werden, die dem Besucher die Orientierung erleichtern.

Der große Saal ist eindrucksvoll. So viele Besucher, wie hier auf der Tribüne Platz finden, hat man im alten FFT niemals gesehen. Die Bühne ist wieder als ebenerdige Fläche angelegt. Über der Nebenbühne ragt zu beiden Seiten ein von schwarzen Vorhängen verdeckter Balkon auf. Das Technik-Pult ist weit gen Himmel gerückt. Für die Cooperativa Maura Morales ist das FFT schon lange so etwas wie Heimat. Jetzt also gilt es, die neuen Räume zu vereinnahmen. Ein Leichtes. Schon während der Proben erzählte Choreografin Morales begeistert von den Probenräumen, obwohl zu diesem Zeitpunkt dort noch viele Umzugskisten abgestellt waren. Die Probenräume im neuen Balletthaus der Deutschen Oper am Rhein sind noch einmal eine andere Klasse, aber gegenüber dem, was dem zeitgenössischen Tanz in der so genannten Freien Szene sonst so zur Verfügung gestellt wird, ist das hier schon ein Erlebnis. Und das betrifft auch die Bühne 1, auf der die Compagnie nun ihre neue Arbeit vorstellt.

Präludium der Kälte. Was für ein Titel. Das macht den Tanz groß, noch ehe er begonnen hat. Und ganz sicher sollte man den Text des Dramaturgen auf dem Abendzettel nicht lesen, denn der macht daraus so ein jämmerliches Frauending, das der Wirklichkeit schon einige Jahre hinterherhängt. „Trainieren, sich bewegen ist Teil unseres alltäglichen Lebens, und auf so was verzichten zu müssen, ändert total die Art unseres Lebens. Und bei dieser Art von Leben, die die Pandemie abverlangt, verschwindet auch alles, was warm und weich ist. Und es entsteht dann diese Disziplinierung, Effektivität und Normierung“, erklärt Maura Morales, was sie zu diesem Stück geführt hat. Für sie ist es eine Reflexion über die vergangenen Monate und der Gegenwart. Wenn man das weiß, wird das Werk plötzlich das, auf was man so lange gewartet hat. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den Gefühlen, die uns alle so diffus beschäftigen. Da werden die Ängste, die uns befallen, weil die Informationslage unverständlich bleibt, die wenig erfüllten Wünsche nach Nähe, die Vorsichtsmaßnahmen der Distanz, die Versuche der Solidarität plötzlich im Tanz sehr plastisch. Nein, hier geht es nicht um Intensivbetten, Abstriche oder Impfungen, sondern um das, was die Regierung aus der Pandemie macht und damit in uns auslöst. Die Choreografie von Morales kehrt hervor, was wir nicht aussprechen können. Und verschafft dem Betrachter eben mit dieser Darstellung eine Erleichterung, weil er sich plötzlich nicht mehr ganz so allein und verunsichert fühlt. Auf einmal ist nicht mehr ganz so schlimm, das alles, was „warm und weich“ ist, verschwindet. Weil man es nachvollziehen kann und es anderen offensichtlich auch so geht.

Belén Montoliú und Gunter Rubin haben in Absprache mit Morales eine Bühne geschaffen, die Transparenz ausstrahlt. Über der Fläche hängt ein Plastiksegel, im Hintergrund links hat Komponist und Musiker Michio Woirgardt Tisch und Instrumente aufgebaut. Im Hintergrund mittig ist ein Rahmen aufgestellt, in dem eine Tänzerin eingangs in Plastikfolie stellvertretend für den Bürger in der Gesellschaft gefangen ist. Eine Plastikfolie auf der rechten Seite wird erst zum Schluss eine Rolle spielen. Grace Morales Suso taucht bis auf einen Schreckmoment die Bühne in stimmiges, unauffälliges Licht, das sich ganz dem Tanz unterordnet. Marion Stehlow steigt als Kostümbildnerin auf das Plastikthema ein. Die Brüste der Tänzerinnen sind mit hautfreundlichem, weißem Pflaster überklebt. Darüber tragen alle Blusen, die vorne aus Gaze, hinten aus Plastik bestehen. Weiße, kurze Hosen vervollständigen die Bekleidung, die unterstreicht, dass die Tänzer sich nackt und durchsichtig fühlen.

Morales verlangt ihren Tänzern – Simone Elliot, Lotta Sandborgh, Alice de Maio, Jay Park, Manuel Paolini und Matilde Tommasini – eine Menge ab. „Ich hatte Glück, denn meine Tänzer sind Wesen aus Stahl und Seide, und sie erlauben mir, mit ihnen die Grenzen unserer Körper auszuloten und zu überschreiten“, sagt Morales. Und genau das passiert an diesem Abend. Ob im Gleichschritt, konvulsivischen Zuckungen des Individuums oder des Corps, Kämpfen der Tänzer zwischen Nähe und Distanz bis hin zur Überschreitung aller erotischen Grenzen, unter allen Abstraktionen liegt eine ungeheure Präzision, die von Athletik geprägt ist. Obwohl die Tänzer in unterschiedliche Richtungen auseinanderdriften, treffen sie auf den Zentimeter wieder zusammen. Das ist faszinierend und von den Tänzern großartig umgesetzt.

Woirgardt setzt seine Musik mit bekannten Mitteln. Dazu gehört der Bogen für die Zupfinstrumente genau so wie die Stahlbürste oder die Loops. Im Ergebnis fragt eine Besucherin, ob man die Musik nicht endlich auf CD hören kann. Kann man übrigens nicht. Und trotzdem setzt der Komponist hier wieder ganz eigene Akzente. Wie beispielsweise die stetig ansteigende Energetik. Geradezu furios wird es zum Ende hin, ehe die Musik abbricht und die Tänzer mit rhythmischer Atmung übernehmen. Im Epilog gibt es Melodiöses, dass aber nicht wirklich zu einer Katharsis führt. Zu ungewiss ist die Zukunft. Und nein, das Ende ist nicht, wie behauptet, versöhnlich. Wenn die Tänzerinnen sich unter die Plastikfolien zurückziehen und die letzte Tänzerin vor dem erlöschenden Scheinwerfer niederkniet, ist darin wohl eher der eindringliche Appell der Künstlerin zu erkennen, dass wir uns vor der „Erkaltung“, sowohl in der Gesellschaft als auch im Individuum, schützen müssen. Recht hat sie.

Dann passiert Erstaunliches. Nach dem Applaus, mit dem sich das Publikum ehrlich bei der exorbitanten Leistung der Tänzer und des Komponisten bedankt, beginnt der Gang der Besucher zur Choreografin, die oben unterhalb der Technik wartet, und anschließend zum Komponisten, um sich zu bedanken. Das erlebt man nicht alle Tage. Aber es unterstreicht, wie wichtig und eindrucksvoll dieses Gegenwartsstück ist. In Düsseldorf ist es nur noch einen Tag zu sehen. Aber hoffentlich nur deshalb, weil es anschließend seinen Siegeszug durch Deutschland antreten wird.

Michael S. Zerban