O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Abgeschabt und neu beschrieben

PALIMPSEST
(Jacqueline Fischer)

Besuch am
24. Juni 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Theater der Klänge, Musikpavillon im Hofgarten, Düsseldorf

Tanzkompagnien, gerade in der so genannten Freien Szene, haben ein echtes Problem. In der Recherche- und Vorbereitungsphase eines neuen Stücks sind sie für das Publikum so gut wie unsichtbar. Sie haben im Prinzip zwei Möglichkeiten. Sie halten diese Phasen so kurz wie irgend möglich, was beinahe zwangsläufig zu Lasten der Qualität geht, oder sie lassen sich etwas anderes einfallen. Ein beliebtes Mittel ist dabei der work in progress. Dem Publikum wird die Idee des neuen Stücks vorgestellt, es bekommt erste Sequenzen auf der Bühne zu sehen. Die Nachteile einer solchen „Vorschau“ liegen auf der Hand. Der Choreograf möchte seine geniale neue Idee nicht vorzeitig verraten, die Tänzer zeigen nicht gern etwas, das sie nicht bis ins letzte Detail eingeübt haben. Und nicht zuletzt gibt es die Frage des richtigen Zeitpunkts. Ist der zu früh gewählt, fehlt möglicherweise die Substanz, liegt er zu dicht an der Uraufführung, fängt das Publikum womöglich an zu vergleichen.

Im Frühjahr haben Jörg Udo Lensing und Jacqueline Fischer vom Theater der Klänge mit ihrem Team eine neue Recherche begonnen. Sehr ungewöhnlich: Es geht dabei weder um Klimawandel noch um geschlechtsidentitäre Fragen. Man möchte es eigentlich gar nicht so recht glauben, aber es gibt im Tanztheater tatsächlich noch andere Themen. Und interessante dazu. Unter dem Arbeitstitel Palimpsest – Das kulturelle Erbe der „West-Land-Tänze“ begannen die Theaterleute, sich mit dem Volkstanz- und Musikerbe Nordrhein-Westfalens zu beschäftigen. Hinzuzogen sie den Balfolk. Da gibt es zunächst einmal Klärungsbedarf. Ein Palimpsest ist ein Dokument aus Pergament, das mehrfach benutzt wurde. Der teure Rohstoff wurde abgeschabt oder die Tinte abgewaschen, um ihn mehrfach nutzen zu können. Dank verschiedener Methoden kann man die ursprünglichen Texte wieder sichtbar machen, und so wurden bereits die Texte zahlreicher historischer Dokumente, die als verschollen galten, wiederhergestellt. Übertragen auf das neue Projekt, haben also Lensing und seine Leute an der Oberfläche gekratzt, um die tieferen Schichten wieder freilegen zu können. Forschungsgegenstand war und ist etwas, was es eigentlich gar nicht zu geben scheint. Volkstänze und die dazugehörige Musik sind in Nordrhein-Westfalen entweder nicht existent oder in Vergessenheit geraten. Methodisch hilfreich ist dabei die Betrachtung des Balfolk, eines Volkstanzabends, der sich in europäischen Ländern zunehmender Beliebtheit erfreut.

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Das Erkenntnisinteresse liegt dabei nicht etwa im historischen Bereich, sondern darin, was man aus den historischen Ritualen für die Zukunft entwickeln kann. Und damit wird es auch für das Publikum interessant. Warum? Das will Lensing für das Publikum am liebsten am eigenen Leib erfahrbar machen. Also lädt das Theater der Klänge zu einer Veranstaltung ein, die eine möglichst breite Öffentlichkeit finden soll. Konzerte im Musikpavillon im Düsseldorfer Hofgarten erfreuen sich allgemeiner Beliebtheit. Wobei der Name Musikpavillon ein wenig in die Irre führt. Im Grund ist es nicht mehr als eine – kleine – Bühne mit Stufen, vor der sich allerdings eine große Wiese erstreckt. Und wenn es eben keine großangekündigten Konzerte sind, die dort stattfinden, ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass sich große Menschenmengen ansammeln. Das Theater der Klänge geht das Risiko trotzdem ein, dort am Samstagnachmittag eine Tanzaufführung anzuberaumen.

Die 30 Grad im Schatten sind am Nachmittag längst erreicht. Vor der Bühne sind einige Bänke aufgebaut. Noch stehen die Tänzer an der Seite der Bühne. Auch sie sind sicher ein Grund für einen Besuch. Denn Lensing und Fischer haben für das neue Stück ein neues Ensemble zusammengestellt. Ein Stück, das erst am 11. Januar kommenden Jahres im Forum Freies Theater uraufgeführt werden wird. Da ist es nicht verkehrt, wenn man dem Publikum die Tänzer schon einmal näherbringt. Miriam Arnold, Yunseo Choi, David Gegoryan, Daniel Hernandez Torres, Linda Withelm, Julia Monschau, Sara Peña Cagigas und Lara Pilloni haben sich in das Thema eingearbeitet. Fischer hat sich einfallen lassen, wie man nicht nur das Thema, sondern auch die Tänzer im Gedächtnis des Publikums verankern kann.

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Vorerst führt Lensing in das Thema ein, während die Tänzer nach und nach die Bühne betreten. Drei Szenen will das Theater der Klänge heute zeigen, um für das Thema zu sensibilisieren. Bislang gibt es ausschließlich improvisierte Musik. Lensing übernimmt Perkussion und Elektronik, wird dabei unterstützt von Jens Barabasch an der Flöte. Wunderbar. Mehr braucht es nicht, um ein Stimmungsbild zu entwerfen. Überraschend beginnen die Tänzer, individuell zu tanzen, also eher heutig. Erst allmählich schält sich der Andro, ein historischer Reihentanz, heraus. Noch wird – bis auf die Ankündigung Lensings, das Publikum nach der Aufführung zum Tanz zu bitten – nicht richtig deutlich, auf was die Choreografie hinauswill. Und das ändert sich auch bei 3 x 2 nicht, einem Kettentanz, bei dem die unterschiedlichen Handhaltungen bei Individual- und Kollektivtanz gezeigt werden. Hier allerdings lohnt es sich, schon wesentlich genauer hinzuschauen. Man erinnere sich an die Frage in der Tanzstunde, an welche Stelle die Hand des Herren beim Wiener Walzer gehört. Bis heute eine der entscheidenden Fragen, ob das Paar elegant oder plump auf der Tanzfläche wirkt. Die Tänzer zeigen schier atemberaubende Möglichkeiten auf und beweisen einmal mehr, dass es nicht um die Vergangenheit geht. Das gilt auch für die dritte Choreografie, bei der Fischer eine Quadrille in die Gegenwart transponiert, basierend auf der Struktur eines Sauerländer Nummer vier. Spätestens hier wird die Aussicht auf den Anfang kommenden Jahres mehr als interessant. Aber es ist nicht mehr als die „übliche“ Aufführung eines work in progress, der gleichwohl vom Publikum mehr als wohlwollend aufgenommen wird.

Und dann trauen sich die Leute vom Theater der Klänge etwas, was in gefühlt 99 Prozent der Fälle schiefgeht. Lensing fordert das Publikum auf, die Bänke zu einem Quadrat zusammenzustellen, um in dem entstehenden Feld zu tanzen. Die Zuschauer sind von den vorangegangenen Aufführungen tatsächlich so angefixt, dass die überwältigende Mehrheit von ihnen mitmacht. Die Tänzer kommen auf den Rasen, mischen sich unter die Menge. Fischer übt mit allen Tanzschritte im Sinne einer Chapelloise ein, ein Gemeinschaftstanz, bei dem sich alle Teilnehmer kennenlernen sollen. Barabasch und Lensing improvisieren, was das Zeug hält. Die sommerliche Atmosphäre im Hofgarten tut ihr Übriges.

Was ist das? Eine ganz gute Marketing-Idee eines Tanztheaters? Der Beginn einer Kampagne für eine überdurchschnittliche Choreografie im kommenden Jahr? Das weiß wohl noch niemand so ganz genau. So oder so ist es ein großartiger Auftakt für was auch immer. Und wenn die Menschen nach der Uraufführung gemeinsam tanzen werden, wird das Theater der Klänge aus Düsseldorf einmal mehr ein ganz ungewöhnliches Werk geschaffen haben.

Michael S. Zerban