O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Flacher als Boulevard

ORPHEUS IN DER UNTERWELT
(Jacques Offenbach)

Besuch am
11. März 2022
(Premiere)

 

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Oper Düsseldorf

Auch heute Nacht werden in der Ukraine wieder viele Menschen ihr Leben verlieren. Denn es herrscht Krieg. Derweil lässt die Deutsche Oper am Rhein im Düsseldorfer Opernhaus die Puppen tanzen. Aber politisch korrekt. Zur Düsseldorf-Premiere von Orpheus in der Unterwelt in der Inszenierung von Barrie Kosky gibt es einen Einleger im Programmheft, also sichtbar für die, die ein Programmheft käuflich erwerben. Da ist zu lesen, dass „wir alle“ – also vielleicht die Mitarbeiter der Oper – „erschrocken und fassungslos angesichts des völkerrechtswidrigen Krieges in der Ukraine“ sind. Abgesehen von der reichlich verwegenen Behauptung, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Krieg handele, es gibt hierzu noch keine rechtskräftigen Urteile, sondern nur Behauptungen, mag man diese fadenscheinigen Lippenbekenntnisse, wie sie derzeit auch an anderen Häusern üblich sind, nicht mehr lesen noch hören. Wäre an diesem Abend irgendjemand „fassungslos“ gewesen, hätte die Aufführung kaum so reibungslos ablaufen können.

Aber was Sprache angeht, ist die Rheinoper ja inzwischen sowieso schmerzfrei. Anstatt sich an die geltenden Regeln der deutschen Sprache zu halten, wird hier munter zeitgeistig ideologisiert. Da spielt Sprache in der so genannten Hochkultur keine große Rolle mehr. Vom Kauf des Programmhefts muss deshalb auch dringend abgeraten werden. Das wird auch, um hier vorzugreifen, am Ende der Aufführung deutlich, wenn Darsteller ein Regenbogen-Banner mit der Aufschrift „Peace“ hochhalten. Nein, es geht bei diesem Krieg nicht um sexuelle Minderheiten, die für ihre Rechte „kämpfen“ wollen, sondern es geht darum, ein starkes Signal für die Bürger zu setzen. Da hätte ein farbneutrales Banner – wenn man keine Partei für die Ukraine ergreifen möchte – mit der Aufschrift „Frieden“ noch einmal eine ganz andere Wirkung gehabt. Aber Denken wird an diesem Abend ohnehin lieber durch Wirkung ersetzt.

„Warum rülpset und furzet ihr nicht – hat es euch nicht geschmecket?“ Wer das mittelalterliche Zitat total lustig findet, ist in der Deutschen Oper am Rhein bestens aufgehoben. Inzwischen ist längst widerlegt, das Zitat könne von Martin Luther oder Johann Wolfgang von Goethe stammen. Heute wird das Zitat als das eingestuft, was es auch heute noch ist: Eine geschmacklose Bemerkung in einer rüpelhaften Gesellschaft. Und so ist es auch bei dieser Premiere. Obwohl, Premiere ist ein relativer Begriff. Denn das Stück wurde bereits 2019 zum ersten Mal aufgeführt. Es ist eine Koproduktion der Salzburger Festspiele, der Komischen Oper Berlin und der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg. Drei Jahre später also kommt es nun in Düsseldorf auf die Bühne. So ist das, wenn man fantasielos dem Mainstream Geld hinterherwirft. Anstatt Gegenentwürfe zu finden, kauft man für viel Geld jemanden ein, der gerade in einer anderen Stadt ein paar Erfolge verzeichnet. So macht es die Provinz von Salzburg bis Düsseldorf.

Bislang war die Oper der Ort, an dem man vom Boulevard weitgehend verschont blieb. Barrie Kosky will das mit Gewalt ändern. Hier wird Slapstick und weniger beharrlich praktiziert. Offenbachs Orpheus wird das schon aushalten, schließlich ist er ja als Opéra-bouffon angelegt, und die Verhältnisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren doch wohl wesentlich robuster als in unseren Zeiten. Beide Annahmen sind falsch. Gerülpse, Gefurze, imitierte Gehgeräusche, Schmatzen sind Geräusche des Dorftheaters, das eine Bauernkomödie aufführt – obwohl gar nicht sicher ist, ob es da heute noch solche Geschmacklosigkeiten gibt. Onanie, aufgeklebte und zur Schau getragene Genitalien, Kopulation sind so platt gemacht, wie man sich das nicht einmal mehr im Boulevard traute. Und man weiß auch gar nicht, was schlimmer ist. Dass sich ein Regisseur diese Peinlichkeiten traut, oder dass das Publikum anstatt mit Buhrufen mit Schenkelklopfen reagiert.

Es lohnt sich allerdings, diesen infantilen Unsinn in einer Zeit zu ertragen, in der Minderheiten sich mehr um Geschlechter als um Inhalte kümmern und damit aber so viel Krach schlagen, dass für die Inhalte gar kein Raum mehr bleibt. Denn Kosky baut das in eine professionelle Umgebung ein, in der Fantasie und Können sich immer wieder in den Vordergrund drängen. Rufus Didwiszus baut eine durchdachte Bühne mit schönen Details und mindestens einem Überraschungseffekt, der wirklich beeindruckt. Victoria Behr hat Kostüme zum Niederknien entworfen. So kann man arbeiten, wenn das Geld keine Rolle spielt. Aber man muss es auch können. Und Behr wendet all ihre Fantasie auf, um farbenfrohen Barock in seiner skurrilsten Form darzustellen. Und wenn sie behauptete, für die Kostüme von Eurydike so viel Zeit wie für alle anderen Kostüme zusammen aufgewendet zu haben, glaubte man ihr das sofort. Einfach großartig. Ebenfalls einfallsreich zeigt sich Otto Pilcher mit seinen Choreografien, die in Düsseldorf von Silvano Marraffa tadellos umgesetzt werden. Gemeinsam mit Kosky gelingen Pichler immer wieder große Bilder, die man von einer Oper erwartet – und die doch immer seltener werden. Vor allem die vollkommene Verschmelzung von Bewegungschor und Tänzern sorgt für größte Begeisterung.

Kosky hat sich einen Kunstgriff erlaubt, um all die Unflätigkeiten, aber auch gelungene Komik umzusetzen. Er hat John Styx eingeführt. Und das hat er vermutlich auch nur deshalb gemacht, weil er Max Hopp kennt. Der Schauspieler ist begnadeter Darsteller, Sprachkünstler und Sänger. So zumindest präsentiert er sich in kaum erlebter Form in Düsseldorf. Was der Mann in annähernd drei Stunden auf der Bühne absolviert, nötigt jeden Respekt ab. Ohne ihn, das darf man bei allem Teamgedanken sagen, funktioniert alles nicht. Elena Sanchez Pereg überzeugt darstellerisch und sängerisch als Eurydike gleichermaßen, auch wenn der Gesang hinter den mikrofonierten Dialogen in der Verständlichkeit zurücksteht. Ihre Spielfreude ist beeindruckend. Bei mancher Szene hätte man ihren Einspruch verstanden, die stattdessen überzeugend überspielt wird. Und so geht es weiter. Andrés Sulbarán spielt gekonnt einen einfältigen Orpheus. Susan MacLean spielt die Öffentliche Meinung als eherne Protestantin, was auch Sicht geschlechtlicher Minderheiten-Kämpfer sicher gelungen, aber zumindest diskussionswürdig ist. Pluto wird von Florian Simson extrovertiert und sängerisch gelungen dargestellt. Peter Bording mimt den Jupiter wunschgemäß tuntig, kann ihm aber im Gesang Profil geben. Unter den zahlreichen Nebenrollen, die zum Beispiel mit Heidi Elisabeth Meier, Katarzyna Kuncio oder Torben Jürgens luxuriös besetzt sind, ragt Valerie Eickhoff als Diana mit zwei Soli hervor, in denen sie sich erneut für größere Rollen empfiehlt.

Die Tänzer werden in vielen kleinen Einzelszenen gefordert. Ihr großer Einsatz ist aber „natürlich“ der Can-Can. Behr verkleidet sie als große Vaginen. Die Unterröcke schleimhautfarben, auf den Trikots sind die kleinen Schamlippen glitzernd abgebildet. Kann man so lösen. Nach dem Verständnis von Kosky tanzen hier Männer und Frauen miteinander. Dann ist ja der Geschlechterkampf gewonnen. Erotik gibt’s woanders.

Vor dem Bauerntheater gerät die Musik ein wenig ins Abseits. Trotzdem gelingt es Adrien Perruchon, sich mit den Düsseldorfern Symphonikern redlich um den Schmiss Offenbachscher Musik zu bemühen.

Die Mischung aus Tuntenparty und Operette mögen nicht alle Besucher so, wie es Barrie Kosky wohl gefallen hätte, der erst gar nicht zur Premiere angereist ist. Warum sollte auch ein Berliner Regisseur in die Provinz reisen? Das Geld ist längst geflossen, und am Intendantenkollegen Meyer fließt das schmerzfrei ab. Und so bekommen die Taxifahrer in der Pause unverhofft viel zu tun. Da kommen die Ordnungsamtsmitarbeiter mit ihrer Belehrung, dass vor der Oper kein Taxistand sei, gar nicht zu Ende, weil die Taxen im Nullkommanichts mit Gästen verschwunden sind. Die verbliebenen Besucher applaudieren im Stehen. Zu Recht. Denn die Akteure auf der Bühne haben eine überzeugende Arbeit abgeliefert.

Michael S. Zerban