O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Eva Würdinger

Aktuelle Aufführungen

Organ-Stationen

ORACLE AND SACRIFICE 1
(Claudia Bosse)

Besuch am
30. Oktober 2020
(Premiere am 28. Oktober 2020)

 

Forum Freies Theater, Kasernenstraße, Düsseldorf

Ist es der Wunsch, den Theaterbesuch konzentriert zu genießen, oder eine typisch deutsche Eigenschaft, sich möglichst schnell in noch so absurde Situationen zu fügen? Man weiß es nicht, aber es löst doch ein unterschwelliges Unbehagen aus, wenn man sieht, wie schnell sich das Publikum auf die geänderten Bedingungen im Theater einlässt. Da kommen sich die wohlmeinenden Theatermitarbeiter schon selbst komisch vor, wenn sie vor der Aufführung noch irgendwelche Sicherheitsanweisungen von sich geben, während die Besucher gelassen, händedesinfiziert und Abstand wahrend mit der Maske im Gesicht vor ihnen sitzen. Sollte es einmal personelle Engpässe im Hochsicherheitstrakt eines chemischen Labors geben, wäre absolut empfohlen, Theaterbesucher einzustellen. Die hätten vermutlich die Schutzanzüge schon an, bevor man ihnen überhaupt mitteilt, dass es welche gibt.

So auch im Forum Freies Theater in der Düsseldorfer Kasernenstraße. Hier läuft eine der letzten Vorstellungen vor dem nächsten Shutdown. Die Mitarbeiter des Hauses, denen aller Frust der Welt zusteht, lassen sich nichts anmerken, achten penibel auf die Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen und bleiben höflich bis freundlich. Sogar der Beginn gelingt pünktlich. Gerade mal drei Wochen liegt die Uraufführung in Wien zurück, jetzt stellt Claudia Bosse ihr erstes „Solo mit Komplizen“ unter dem Titel Oracle and Sacrifice 1 – oder die Evakuierung der Gegenwart in Düsseldorf vor. Orakel und Opfer, das klingt in Verbindung mit dem Bühnenbild erst mal spannend. Denn die Bühne ist ein weißer Raum, der kontinuierlich grellweiß ausgeleuchtet wird. Darin finden sich verschiedene Stationen, an denen verschiedene Organe auf ihre Einbindung in den Abend warten. Teils als Präparate, die Dagmar Tröstler besorgt hat, teils als künstlerisch abstrahierte Gegenstände, wie das Herz, das zu Beginn noch als großer, weißer Plastiksack an der Decke hängt. In eine Rinderlunge wird immer mal wieder Luft geblasen, so dass sie sich lebensecht ausdehnt. Die „sterile“ Atmosphäre sorgt dafür, dass hier selbst für den Laien nichts unheimlich oder gruselig wirkt.

Das ist auch nicht Bosses Anliegen. Sie tritt vielmehr auf vielfältige Weise mit den Organen in Beziehung. In silberglänzendem Hemd und einer paillettenbesetzten, silberfarbenen Trikothose betritt sie die Bühne. Streift sich eine Haut über, die sie schnell wieder ablegt. Holt weitere Organe in Glasschalen herbei. Ihre Erkundungen finden in größter Langsamkeit statt, beanspruchen die eigenen Körperpartien, die sich zittrig bis flirrend bewegen. Ja, sie schaltet unterwegs das Augenlicht aus, um sich auf die Haptik zu verlassen. Bosse will keine Ästhetik herstellen, sondern sich auf diese Beziehung reduzieren. Das wird deutlich, wenn sie versucht, einige der Organe ihrem Körper „wieder“ zuzufügen. Schließlich legt sie das schillernde Hemd ab, um sich nach kurzer Nacktheit in eine zu enge, durchsichtige Plastikschürze zu quetschen. Damit ist sichergestellt, dass nichts Schönes mehr zu sehen ist.

Foto © Eva Würdinger

Eingestreut werden Texte, die oft stimmverzerrend über Mikrofone gesprochen werden. Was am Mischpult immer ganz einfach aussieht, hapert in der Realität oft. Aber Marco Tölzer hat seine Anlage eisern im Griff, und so kommen die Besucher in den vollen Genuss des Gemeinten. Warum die Texte in Simpel-Englisch vorgetragen werden müssen, erschließt sich nicht, denn Bosse besitzt genügend Ausdrucksstärke in der Stimme, um eine Wirkung auch auf Deutsch zu erzielen. Geheimnisvoll bleibt auch, warum Jonas Tonnhofer sich halbnackt mit rohen Eiern beschmieren lassen muss. Ob das nun Orakelbefragung oder Opferschändung ist, kann nur Bosse selbst beantworten. Für die Besucher hält die Akteurin noch eine Überraschung bereit, die sicher sehr viel stärker gewirkt hätte, wenn es keine Überraschung gewesen wäre.

In der zweiten Hälfte tritt Claudia Bosse auf. Die Besucher schwanken zwischen der Annahme, es handele sich hier um eine kabarettistische Einlage, und dem Glauben, dass die mehr oder minder vor sich hinplätschernde Handlung eine absurde Unterbrechung erfahren solle. Tatsächlich wäre es vermutlich sogar zu so etwas wie einem Gänsehauteffekt gekommen, hätten die Besucher gewusst, dass die attraktive junge Frau in gelbem T-Shirt und beige-farbener Hose tatsächlich Claudia Bosse ist, Staatsanwältin aus Bielefeld. Die Bosse aus Wien hat irgendwann ihre Namensvetterin entdeckt, sich für ihre Arbeit interessiert und diese schließlich als Anlass für das neue Stück genommen. Großartig, dass Staatsanwältin Bosse aus der Stadt, von der man nun wirklich weiß, dass es sie nicht gibt, sich bereit erklärt hat aufzutreten. Und die Laiendarstellerin schildert ganz großartig, theatralisch verfremdet Lebensgeschichte und Berufserfahrung.

Mit dem Wissen um die Hintergründe verlieren die poetischen Einwürfe der Theatermacherin Bosse an Bedeutung, aber das Stück wird profund. Manchmal ist weniger hochfliegend einfach mehr. Das Publikum weiß es zu diesem Zeitpunkt nicht, versucht, Lustiges an dem Vortrag der Staatsanwältin zu finden und nimmt den Abschluss des Abends, das Herabsinken des Herzens über der Protagonistin, als letzten guten Einfall hin. Nach einem eher dünnen Beifall verrät eine Zuschauerin, warum sie gekommen ist. Sie hat von den Organen gehört, die zu sehen sein würden. Aber im Nachhinein fand sie es nicht so schlimm, sogar ganz lustig. Pointe verpasst. Claudia Bosse aus Wien übrigens bekommt Gelegenheit, ihre Reise zum Körper in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft fortzusetzen. Für den kommenden Sommer ist eine Fortsetzung mit Chor in den Wäldern Wiens geplant.

Michael S. Zerban