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Aktuelle Aufführungen

Traumwelt der Vergangenheit

NO FUN
(Simon Hartmann, Daniel Ernesto Mueller)

Gesehen am
5. März 2021
(Uraufführung/Stream)

 

Tanzhaus NRW, Düsseldorf

Der Umbruch hat gerade erst begonnen. Noch längst nicht bei jedem Künstler ist angekommen, dass die Zeit vorbei ist, in der man das Internet als Kunstort ignorieren kann. Zumindest, wenn man seine Kunst noch über einen längeren Zeitraum ausüben und damit sichtbar bleiben will. Und wer mitmischen will im großen Konzert der Anbieter, muss sich gewaltig beeilen. Die Entwicklung schreitet rasch voran. Schon heute wirkt es wenig professionell, ein Bühnengeschehen abzufilmen und bei YouTube oder Vimeo einzustellen. Veränderte Arbeitsweisen, eine professionelle Kameraführung, ausreichende Tonqualität sind heute bereits Minimalstandards, um überhaupt noch beachtet zu werden. Das nächste Unterhaltungsangebot ist einen Klick entfernt. Und das ändert sich auch nicht, wenn man Geld dafür nimmt, dass das Publikum bei einer Aufführung zuschauen darf.

Auch die so genannte Freie Szene muss umdenken. Die mehr oder minder intimen Aufführungen vor Stammpublikum an kuscheligen, kleinen Spielstätten gehören seit einem Jahr der Vergangenheit an, und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Nimbus des „work in progress“, des nicht ganz so Professionellen des Andersseins hat sich ja ohnehin längst in den Fördertöpfen der Nation verabschiedet. Jetzt gilt es, sich im Chor anderer künstlerischer Dienstleister auf Augenhöhe zu behaupten. Und dazu gehört auch, rasch Formen der künstlerischen Arbeit zu entwickeln, die im digitalen Raum bestehen können. Dass diese Auseinandersetzung eigentlich schon hätte 1995 beginnen müssen, braucht heute nicht mehr diskutiert zu werden.

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Wer anscheinend sehr gute Voraussetzungen mitbringt, sich auf die veränderten Arbeitsbedingungen einzustellen, sind Simon Hartmann und Daniel Ernesto Mueller. Beide sind Bühnentänzer mit Diplom von der Folkwang-Universität Essen – dort haben sie sich auch kennengelernt – und haben sich seit 2011 einen Ruf als Theaterkollektiv HARTMANNMUELLER erarbeitet. Dabei haben sie sich auf die Fahnen geschrieben, auf der Suche „nach einer neuen Ausdrucksform, die von Film und Popkultur beeinflusst ist und sich damit der Zuordnung zu herkömmlichen Klassifizierungen entzieht“ zu sein. Dabei arbeiten sie nach eigenen Angaben „an den Grenzen zwischen Tanz, Performance und Theater“. Da könnte man auf den Gedanken kommen, dass die beiden sich mit der neuen Arbeitsumgebung Internet schnell zurechtfinden und mit neuen Lösungen überraschen.

Jetzt zeigt das Tanzhaus NRW ihr neues Stück No Fun als Stream. Das heißt, die Aufführung wurde im Großen Saals des Tanzhauses in Düsseldorf aufgezeichnet und wird jetzt als Video bei Vimeo ausgestrahlt. Zum ersten Mal treten Hartmann und Mueller dabei nicht selbst in Erscheinung, sondern wirken ausschließlich im Hintergrund. Das heißt, sie sind für Konzept, Regie und Choreografie verantwortlich. Es gibt keine Geschichte, dafür aber eine Traumwelt, in der Narren und Clowns leben. Diese Welt ist in unserer Galaxie ohne feste Ortsbestimmung angesiedelt. In teils extrem wechselnden Stimmungen wird Szene an Szene gereiht. Da begrüßt ein Clown das Kinderpublikum, ein Narr eröffnet mit einem Monolog, es gibt erotisch getanzte Annäherungen, ohne dass ein Zusammenfinden stattfindet. Fiktive Gäste werden in einer Hotel-Lobby versammelt, in der sie Beobachter einer pantomimischen Aufführung werden. Der Hass darf die Überhand über die Meinungsfreiheit übernehmen, um in einer Kakophonie zu enden. Verraten werden darf auch schon, dass das Stück nach rund 75 Minuten versöhnlich endet. Wenn man es optimistisch sehen will. Kritischer könnte man darin auch eine phlegmatische Haltung entdecken.

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Da steckt viel gutes Material drin. Vor allem die tänzerischen Leistungen von Sophia Seiss und Rodolfo Piazza Pfitscher da Silva überzeugen ebenso wie die etwas aus der Zeit gefallene Komik von Thilo Garus. Die Choreografien sind die Lichtblicke des Abends. Die Kostüme, die Charlotte Grewer entwickelt hat, sind vermutlich beabsichtigt androgyn und ein wenig verrückt gewählt. Dafür sprechen auch die Masken, bei denen es ein paar Regenbogenfarben in den Gesichtern von Seiss und Pfitscher da Silva gibt, während Garus sich mit dem Einheitsweiß des Clownsgesichts – ohne rote Nase – begnügen muss. Bis dahin also ein netter Abend, der vermutlich von im Saal anwesendem Publikum ausgiebig applaudiert worden wäre.

Im Internet haben wir alle aber im vergangenen Jahr zu viele abgefilmte Aufführungen gesehen, um diese wirklich noch genießen zu können. Dass Mueller und Hartmann hier so eine Art sprachliches Babylon schaffen wollten, indem sie für deutsche Texte Untertitel finden, die für englisch vorgetragene Texte entfallen, hätte man noch diskutieren können. Aber die Tonqualität ist mitunter grottenschlecht. Und so fällt dieser „originelle“ Einfall total ins Wasser. Erschwerend unterlegt Orson Hentschel, der für Musik und Komposition verantwortlich ist, meist nicht mehr als einen schmalen Klangteppich, der zwar nicht viel aussagt, aber das Verständnis der Sprache erschwert. Da freut man sich regelrecht über das eingespielte That’s Life. Die Kameraführung ist kläglich und wirklich nicht mehr zeitgemäß. Zwar lösen sich Totale und Zoom regelmäßig ab, aber es hätte geholfen, wenn man dem Kameramann vorher mal ein Drehbuch an die Hand gegeben hätte. Dann hätten die Wechsel auch auf die Situation gepasst. So wirken gekonnte Einstellungen mehr als Zufallsergebnis.

Hartmann und Mueller haben hier keine Grenzen überschritten, sondern sind in ihrer Bühnenwelt gefangen geblieben. Und so ist hier keine echte Traumwelt, sondern mehr ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit entstanden. That’s life. Wer sich davon selbst überzeugen möchte, hat am darauffolgenden Wochenende noch bei zwei Ausstrahlungsterminen Gelegenheit.

Michael S. Zerban