O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Elektrisierter Chor

NEULAND
(Diverse Komponisten)

Besuch am
18. November 2023
(Uraufführung)

 

Junger Kammerchor Düsseldorf in der Berger Kirche, Düsseldorf

Beim letzten Besuch des Jungen Kammerchors Düsseldorf, das war im Januar dieses Jahres, erstaunte der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Nichts von dem, was da so auf der Netzseite verkündet wurde, schien irgendeinen Bezug zu dem Abend zu haben. Und so ist die Skepsis groß, als der Chor jetzt zu einer Aufführung in die Berger Kirche mitten in der Düsseldorfer Altstadt einlädt. Gemeinsam mit der Künstlerin Serane wolle man den Chorgesang mit elektronischer Musik kombinieren, heißt es mehr als mutig in der Ankündigung. „Elektronische Musik“ ist ja in etwa so ein Publikumsmagnet wie die „neue Musik“ vor der Pandemie. Auch ist die Idee nicht neu, elektronische Musik mit chorischen „Gesängen“ zu kombinieren, allerdings gibt es da so recht keine Erinnerungen an musikalische Ereignisse, die länger als bis zur Ausgangstür der Spielstätte haften geblieben wären. Hinzu kommt, dass der Dauerregen der vergangenen Tage die ungepflegten Düsseldorfer Straßen in riesige Pfützenlandschaften verwandelt, durch die man in der nassen Kälte eigentlich gar nicht stapfen möchte.

Allmählich müssen sich nicht nur Chöre, sondern auch andere Veranstalter ernsthaft überlegen, ob sie ihrem Publikum überhaupt noch ernsthaft Spielstätten in der Düsseldorfer Innenstadt anbieten können. So sind am Karlsplatz, der in nächster Nähe zur Berger Kirche liegt, sämtliche Parkplätze mit Hilfe von Baustellen vernichtet worden. Übrig bleiben Parkhäuser, die inzwischen kaum mehr vertretbare Mietpreise verlangen – und das bei Parklücken, die das letzte Mal in der Ära des Goggomobils angepasst wurden. Angesichts solcher Servicefreundlichkeit finden unglaublich viele Besucher ihren Weg in die evangelische Kirche, die aus dem 17. Jahrhundert stammt.

Bernhard Eurich und Jean-Philippe Apel – Foto © O-Ton

Lässt man die Rahmenbedingungen außer Acht, hat der Chor einen fantastischen Aufführungsort gefunden. Ein weißgekälkter, schmuckloser Innenraum erlaubt eine aufwändige Lichttechnik, die Akustik ist für eine Mischung aus Computermusik, Gesang und akustischen Einspielungen ideal. Hier kann man also Neuland betreten, so der Titel des heutigen Abends.

Selbstverständlich ist es die Aufgabe der Jugend, den Chorgesang weiterzuentwickeln, um ihn zukunftsfähig zu gestalten. Aber was der Junge Kammerchor Düsseldorf unter der musikalischen Leitung von Jean-Philippe Apel an diesem Abend auf die Bühne bringt, übertrifft doch alle Erwartungen. Und da beginnt Serane ganz pünktlich mit dem Programm. Sie hat Kommunikationsdesign an der Hochschule Düsseldorf studiert, ist gerade mal 24 Jahre alt und beschäftigt sich seit ihrer Kindheit mit Gesang, aber in den letzten Jahren eben auch mit der elektronischen Musik. Die Besonderheit liegt darin, dass sie ihre Klänge auf den Gesang abstimmt. Sei es in Form von passenden Zwischenspielen, sei es mit Reflektionen auf die chorischen Darbietungen, ergänzt um „zufällige“ Einspielungen von gesprochenen Zitaten. Schließlich sollen hier Algorithmus-Ergebnisse auf die Wirklichkeit treffen. Und so entsteht von Anfang an ein geschlossener, musiktheatralischer Eindruck, der seinesgleichen sucht.

Mit Terre Neuve von Marie-Claire Saindon, gerade mal drei Jahre alt, steigt der Chor nicht nur gesanglich, sondern auch körperlich ein. Wenn in der Naturbetrachtung das Eis kracht, begleiten die Choristen das mit stampfenden Füßen und Klatschen. Ein Gesang, der sich wohltuend vom kirchenmusikalischen Geschehen abhebt. Um die Welt in einem Sandkorn zu sehen, muss es wohl eher ruhig zugehen. To See the World von Sven-David Sandstrom stammt aus dem Jahr 2015 und ist wohl eher als Meditation zu verstehen. Wunderschön die Interpretation von O Sapientia – Weisheit – der slowenischen Komponistin Tadeja Vulc aus dem Jahr 2017, bei der das Händereiben eine große Rolle spielt. Als aufstrebende Berühmtheit gibt es bereits einige Videos von ihr, aber da sollte man die Aufnahmen aus der Berger Kirche abwarten, um es sich anzuhören. Jakob Christian Seidel, gerade mal 28 Jahre alt und Mitglied des Jungen Kammerchors, steuert den Silber-Ahorn als Uraufführung bei. Spätestens hier wünschte man sich doch ein paar Erläuterungen zu den dargebotenen Werken im Programmheft – vergebens.

Serane – Foto © O-Ton

Nach dem vergnüglichen Laughing Song des 1974 geborenen Torbjøn Dyrtud gibt es dann – schließlich findet der Auftritt in einer Kirche statt – „endlich“ die Reminiszenz an Johann Sebastian Bach. Die Kantate Ach wie flüchtig, ach wie nichtig stammt ursprünglich von Michael Franck, der sie 1652 mit einer eigenen Melodie und einer vierstimmigen Vertonung veröffentlichte. 1724 legte Bach in seinem zweiten Jahr in Leipzig eine eigene Komposition zu dem Text vor. In die Gegenwart holt die Kantate Serane und sorgt dafür, dass sie nicht aus dem Rahmen fällt. Ebenfalls gründlich entstaubt erklingt anschließend John Taveners Mother of God, Here I Stand, das Bernhard Eurich dirigiert, ehe zum Finale Fütter mich von Lukas Maier zu Gehör gebracht wird, in dem der Algorithmus den Computer-Benutzer einlädt, ihn mit Daten möglichst höchst persönlicher Daten zu versorgen.

Entwickelt haben das fantastische Programm Johannes Trosta, Bernhard Eurich, Peter Göhne, Jakob Seidel und Jean-Philippe Apel, die sich auch um eine abwechslungsreiche Licht-Show gekümmert haben. Seit vergangenem Monat ist Apel künstlerischer Leiter des Chors. Das wurde im Vorfeld en passant bekannt gegeben. Egal, wie hoch sein Anteil an diesem Abend war: Der Einstand ist mehr als gelungen.

Das Publikum fühlt sich berauscht und applaudiert ausgiebig und im Stehen. In der Tat: Neben diesem Programm wirkt jedes Repertoire-Stück angestaubt und altbacken. Da darf jeder einzelne Chorist, Techniker und Serane sowieso stolz darauf sein, an diesem Abend mitgewirkt zu haben.

Michael S. Zerban