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Jubiläumskonzert zum Jahresauftakt

NEUJAHRSKONZERT
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
1. Januar 2021
(Livestream)

 

Tonhalle Düsseldorf

Das Land Nordrhein-Westfalen hat rund 18 Millionen Einwohner und ist damit das bevölkerungsreichste deutsche Land. Entstanden ist das Land Nordrhein-Westfalen gemäß Besatzungsrecht der Besatzungsmacht Großbritannien am 23. August 1946 aus dem Nordteil der preußischen Rheinprovinz und der preußischen Provinz Westfalen. Ein Jahr später kam das Land Lippe dazu. Seit 75 Jahren also gibt es eine Erfolgsgeschichte, die von wirtschaftlichem Aufschwung und kultureller Vielfalt geprägt ist. Grund genug für die Tonhalle Düsseldorf, das zum Thema ihres Neujahrskonzertes zu machen. Ja, es gibt ein Neujahrskonzert. Und es ist eines von vielen, die in diesem Jahr online übertragen werden. Aber es ist eines der besten.

Marisol Montalvo begeistert mit Feierlaune – Bildschirmfoto

Eigentlich sollte an dieser Stelle der Bericht vom Neujahrskonzert eines Stadttheaters erscheinen. Das aber war bereits nach 23 Minuten beendet, und das war auch gut so, weil Technik, Bild-, Ton- und Lichtregie grottig waren. Der Intendant des Hauses bleibt eisern bei der Überzeugung, dass sein Theater für die Bühne arbeitet und für sonst nichts. Das hat er gezeigt. Die Zeichen der Zeit allerdings sagen etwas anderes. Die Kulturinstitutionen werden allmählich in der Außenwahrnehmung zu leerstehenden Relikten der Stadtarchitektur, wenn sie sich online nicht bemerkbar machen und sich so wenigstens bei ihrem Publikum mit exzellenter Aufführungstechnik in Erinnerung rufen. Hier trennt sich allmählich die Spreu vom Weizen. Und Michael Becker, Intendant der Tonhalle Düsseldorf, ist entschlossen, auch online Erlebnisse zu bieten, die seinem Publikum unvergesslich bleiben. Dass er ganz nebenbei inzwischen viel mehr Besucher online versammelt, als überhaupt in die Tonhalle passen, ist ein angenehmer Effekt. An diesem Abend werden es Besucher aus Amerika, Russland, Türkei, ach ja, und aus ganz Deutschland sein.

Anstatt sich der digitalen Technik zu verweigern, hat die Tonhalle inzwischen ausreichend Erfahrung in der Übertragungstechnik gesammelt. Es gibt immer Möglichkeiten, sich zu verbessern, aber was die Tonhalle hier anbietet, geht schon ziemlich weit. Verzögerungen werden inzwischen scheinbar obligat. Aber wenigstens gibt es im YouTube-Kanal immerhin die notwendigsten Informationen zum Konzert. Später wird sogar die Möglichkeit geboten, „Liedtexte“ mitzulesen. Wenn es in Zukunft noch die Texte gibt, die normalerweise im Programmheft zu finden sind, kann man sich über die Qualität nicht mehr beschweren – und muss sich auch nicht mehr mit dem Hinweis anderer Veranstalter abspeisen lassen, dass man ja zu Wikipedia klicken könne. Und warum nun ausgerechnet die Autoren auf ihr Honorar verzichten müssen, die für die Programmheft-Texte verantwortlich sind, erschließt sich ohnehin nicht. Denn das sind in der Regel Freiberufler, und die sind gerade auf jeden Groschen angewiesen.

Michael Becker führt elegant durch das Programm – Bildschirmfoto

Ja, es sticht noch immer in der Herzgegend, wenn die Musiker in einem ansonsten menschenleeren Saal auftreten. Vielleicht ist das ein wichtigeres Signal als jede Beschwörung, dass es ohne Kultur still werde. Deutlicher kann man nicht zeigen, was gerade in den Konzertsälen passiert. 75 Jahre NRW. Da liegt die Idee nahe, ein Konzert zu veranstalten, das die eben auseinander gedrifteten Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien zumindest kulturell kittet. Und so treten die Bläser auf, um mit Michael Tippetts Fanfare for Brass zu eröffnen. Eine gute Wahl, die die Düsseldorfer Symphoniker eindrucksvoll bewältigen. Anstatt langer Umbaupausen oder Umbesetzungen gibt es wunderbar vorgetragene Moderationen des Intendanten Becker. Der wächst in dieser Zeit über sich selbst hinaus. Anders kann man es nicht sagen. In der Zwischenzeit formieren sich die Musiker neu, um zwei Sätze aus Felix Mendelssohn Bartholdys Sommernachtstraum vorzutragen: Intermezzo und Nocturno. Am Pult steht Oksana Lyniv, die aufstrebende Dirigentin, die im Sommer vergangenen Jahres nach Düsseldorf gezogen ist und nun für den eigentlich vorgesehenen britischen Dirigenten einspringen konnte. Wer ihren Auftritt in diesen anderthalb Stunden erlebt, stellt keine Fragen mehr, warum sie gerade die Senkrechtstarterin im internationalen Konzertzirkus ist. Und warum sie der Liebling der Musiker ist. Auch wenn sie mit ihren zackigen Bewegungen zwischenzeitlich wie ein Robotnik der russischen Föderation wirkt, setzt sie andererseits ihren ganzen Körper ein, um das Orchester in ihrer Leidenschaft für die Musik mitzunehmen und gibt einzelnen Musikern immer wieder das Gefühl, gerade ganz besonders wichtig für den Fortgang der Musik zu sein. Über weite Teile der Partitur dirigiert sie mit geschlossenen Augen, bevor sie sich wieder ganz dem einen oder anderen zuwendet und ihn motiviert.

Ganz besonders deutlich wird das bei Benjamin Brittens Variations on a theme by Frank Bridge op. 10 oder der Romanze für Violine und Orchester in F-Dur op. 50, bei der sich der Erste Konzertmeister der Düsseldorfer Symphoniker, Dragos Manza, ganz weit in den Vordergrund spielen darf. Was ist ein Neujahrskonzert ohne eine Besonderheit, die es so bei keinem anderen Konzert gibt? Gar nichts. Das geht vielleicht bei den Wiener Philharmonikern, wenn Oma und Opa und die Superreichen dem alljährlichen Ritual folgen. Aber bei allen anderen ist mehr Fantasie gefragt. Und Michael Becker ist hier mit dem Glück des Tüchtigen versehen. Denn Marisol Montalvo ist in der Stadt. Und die steht immer für das Außergewöhnliche. 1922 komponierte William Walton die instrumentale Begleitung zu einer Serie von Gedichten, die Edith Sitwell 1918 begonnen hatte und die in einer Sammlung mit dem Namen Façade – An Entertainment bekannt wurden. Sitwell verdrängte die Inhalte und hob Klang und Rhythmus der vorgetragenen Worte in den Vordergrund. Walton trug dem Rechnung. Und so stehen bei den an diesem Abend vorgetragenen Ausschnitten weniger die fantastischen stimmlichen Möglichkeiten von Montalvo im Vordergrund als vielmehr ihre Lust, sich mit dem Werk auseinanderzusetzen. Das gelingt auch ohne Publikum bravourös. Und das Nachspiel La Réjouissance aus der Feuerwerksmusik von Georg Friedrich Händel wirkt tatsächlich mehr wie ein Abgesang, obwohl es im Vortrag keine Abzüge gibt.

So beginnt man das neue Jahr. Großartig. Ein ungewöhnliches Programm, von vorzüglichen Protagonisten vorgetragen, die von einer außergewöhnlichen Dirigentin geleitet werden. Was macht denn ein Neujahrskonzert aus? Im besten Falle bereitet es uns auf die Überraschungen vor, die das neue Jahr für uns bereithält. Und das ist an diesem Tag wohl kaum jemandem besser gelungen als der Tonhalle.

Michael S. Zerban