O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Krankheit in Noten

NA HÖR’N SIE MAL
(Diverse Komponisten)

Besuch am
2. Januar 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Tonhalle Düsseldorf, Helmut-Hentrich-Saal

1974 wurde Günter Becker Professor für Komposition und Live-Elektronik an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf, ein Lehrstuhl, den es bis dahin in der Bundesrepublik Deutschland nicht gab. Unter seinen Studenten ist Mark-Andreas Schlingensiepen, der gemeinsam mit anderen 1983 ein Ensemble für neue Musik gründet, das in Becker einen langjährigen Mentor findet. Ein Jahr später gibt das ensemble neue musik Düsseldorf sein erstes Konzert im Hartmut-Hentrich-Saal der Tonhalle. Wiederum ein Jahr später entscheidet der damalige Intendant Peter Girth, dass das Ensemble fester Bestandteil der offiziellen Konzertplanung der Tonhalle wird. Erst 1992 wählen die Musiker ihren bis heute gültigen Namen des Notabu-Ensembles. Seit 2003 gibt es bereits die kammermusikalische Reihe Na hör’n Sie mal, allerdings gut versteckt im Udo-van-Meeteren-Saal der Clara-Schumann-Musikschule Düsseldorf. Erst 2009 holt Intendant Michael Becker sie in den Hentrich-Saal.

Für neue Musik gibt es also ziemlich viel Geschichte im Kammermusik-Saal der Tonhalle. Und für eine städtische Institution ist es ein nahezu gemütlicher Saal. Parkett, holzgetäfelte Wände, auf der Längsseite ist ein Teppich mit einem grünen Ei aufgehängt. Die Stühle stehen hier gefühlt seit den 1980-er Jahren. Wenn die Vorhänge geöffnet sind, fällt der Blick auf den Rhein und die davorliegende Rheinuferstraße. Ein zufälliger Befund, gemacht wird daraus nichts. Stattdessen wird der Saal hell ausgeleuchtet, ein wenig lieblos wirkt das. Dem Publikum scheint das herzlich egal. Wer hierher kommt, kennt das nicht anders, so scheint es. Vor dem Konzert gibt es eine Einführung, die der Einfachheit halber gleich im Saal stattfindet. Eintreffende Besucher stören nicht. Das hat schon was von einem Familientreffen.

Veronique de Raedemaeker – Foto © O-Ton

Familiär geht es auch los. Günter Becker erkrankte schwer an Parkinson, wurde rollstuhlpflichtig, ehe er 2007 starb. Aus dieser Zeit stammt sein Stück Befindlichkeiten. Ein Trio für Altsaxofon, Cello und Klavier. Das Saxofon übernimmt Wardy Hamburg, Mitsuru Morita sitzt am Cello und Yukiko Fujieda bedient das Klavier, um ein ergreifendes Konzert darzubieten. Wer will, hört hier viel vom Krankheitsverlauf des Komponisten, der Körper und Geist im Aufruhr bis zur Atemlosigkeit erklingen lässt. Laut wird es im Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit der Krankheit, bis zur scheinbaren Stille geht es in den Erschöpfungsphasen. Dermaßen beeindruckt wird das Publikum gleich in den nächsten Krankheitszustand gestoßen.

Denn kaum anders kann man die fiebrig-überhitzte Hommage an die Geige bezeichnen, die Luciano Berio mit der Sequenza VIII für die Violine komponierte. Rund vierzehn Minuten lang stürzt Veronique de Raedemaeker hochvirtuos das Publikum in einen Rausch wechselnder Geschwindigkeit, nur hin und wieder unterbrochen durch bewusst grob gesetzte Striche, die nicht für eine echte Atempause reichen. Man weiß nicht, was faszinierender ist: Die Klänge, die de Raedemaeker erzeugt oder ihre Arbeitsweise. Während die Finger der linken Hand über den Steg fliegen, steuert sie über die Fußtaste seelenruhig durch die Partitur auf dem Tablet. Ein ästhetischer wie klanglicher Hochgenuss.

Eine kurze Umbaupause ermöglicht es den Besuchern, wieder zu sich selbst zu finden und den Kopf für das nächste Werk frei zu bekommen. Mit Triada (1 + 2 = 3) hat Cristóbal Haffner ein etwa 18-minütiges Trio für Violine, Klarinette und Klavier geschaffen, in dem sich variantenreich zwei Instrumente gegen das dritte „verbünden“, um letztlich wieder zu einer Einheit zu finden. Auch hier nimmt Yukiko Fujieda wieder am Flügel Platz, Seunghae Kürten ist dieses Mal die Violinistin und Christof Hilger begeistert an der Klarinette. Nicht immer wird ganz deutlich, wer nun gerade mit wem gegen wen spielt, was aber auch unwichtig ist, weil das Stück die Spannung über den gesamten Zeitraum hält. Im Grunde ist man als Besucher nach diesen Hörerlebnissen gesättigt. Aber auch hier greift das alte Dilemma, dass Konzertveranstalter glauben, man müsse dem Publikum auch ordentlich was bieten für sein Eintrittsgeld. Also gibt es – immerhin nach einer Pause – ein weiteres Werk.

Djordje Davidovich – Foto © O-Ton

Mark-Andreas Schlingensiepen hat sich von Felix Seilers Totentanz inspirieren lassen. Das sind 24 Zeichnungen in gebranntem Siena auf aufgezogenem Papier, die jeweils vier Menschen zeigen. Die erste Hängung des Kunstwerks in drei übereinanderliegenden Reihen erfolgte intuitiv und nicht etwa nach einem festgelegten Plan. Daraus kann man ableiten, dass die Reihenfolge, von der ersten und letzten Zeichnung abgesehen, variabel ist. Schlingensiepen greift diese „Vorgaben“ in seinem etwa halbstündigen Werk auf. So ist die Besetzung gleich stark wie die Anzahl der Menschen auf den Bildern. Der Variabilität trug das Ensemble Rechnung, indem die Reihenfolge gelost wurde. Auch wenn der Komponist in Analogie zum Werktitel tänzerische Elemente einfließen lassen will, stehen typische Elemente der neuen Musik wie etwa die erweiterten Möglichkeiten eines Instrumentes im Vordergrund. Für die anspruchsvolle Partitur stehen auch hier wieder hervorragende Musiker zur Verfügung. An der Bassklarinette übernimmt Holger Busboom so etwas wie die Führung, Veronique de Raedemaeker hat sich so weit erholt, dass sie mit Freude erneut ihre Fähigkeiten unter Beweis stellt, Adya Khanna Fontenla brilliert mit kurzen, aber komplexen Eingriffen am Cello und Djordje Davidovich schließlich zeigt nicht nur die vielfältigen Möglichkeiten des Akkordeons, sondern auch, dass es „atmen“ kann, indem nichts anderes als die Bewegung des Balgs zu hören ist. So großartig das Stück dargeboten wird, so bedauerlich ist, dass die Musiker hier ganz konventionell im Halbkreis vor dem Publikum sitzen. Das bedeutet nämlich, dass die Arbeit von Busboom und Davidovich hinter großen Partiturbögen so gut wie gar nicht zu sehen ist.

Aber auch hier zeigt sich das Publikum geübt. Versinkt hochkonzentriert im Dahingleiten über die einzelnen musikalisch umgesetzten Zeichnungen und nimmt sich am Ende auch die Zeit, die letzten Töne nachklingen zu lassen, ehe abermals großer Applaus für die Virtuosen laut wird. Ein großartiger Abend geht zu Ende, und die Besucher lassen sich Zeit damit, nach Hause zu kommen, ganz ohne Fieber übrigens.

Michael S. Zerban