O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Christoph Westermeier und Paul Good - Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Aktuelles aus der Vergangenheit

MEIN HERAKLIT
(Paul Good)

Besuch am
4. April 2023
(Einmalige Veranstaltung)

 

Malkasten, Düsseldorf

Stell dir vor, du wirst am Dienstagabend zu einem kleinen Konzert im Düsseldorfer Malkasten eingeladen. Das ist ganz nett, zumal man nicht so oft in den Künstlerverein an der Jacobi-Straße kommt. Bei deinem Eintreffen stellst du fest, es geht eigentlich nicht um Musik, sondern um ein Buch. Na, wenn du mal da bist. Sieht ohnehin alles schon wieder ganz anders aus, als du es in Erinnerung hattest. Im Erdgeschoss gibt es jetzt ein mondänes Restaurant, oben ist der Theatersaal, in dem die Vorstellung stattfinden soll. Das Erstaunen ist groß. Der Saal füllt sich bis auf den nahezu letzten Platz. Allerdings erinnert das Publikum eher an ein Alumni-Treffen der Kunstakademie Düsseldorf. Das kann ja interessant werden.

Statt auf der Bühne ist davor ein Tisch aufgestellt. Die Bühne selbst ist von einer Leinwand verhangen. Rechts davon sind bereits ein Notenpult, Stuhl und das Akkordeon aufgebaut, das später noch eine kurze Rolle spielen wird. Der nette, ältere Herr mit der sympathischen Ausstrahlung nimmt am Tisch Platz, auf dem ein Notebook und viel Papier, ein Mikrofon und eine Lampe angeordnet sind.

Christine Fausten – Foto © O-Ton

Der Malkasten im Stadtteil Pempelfort ist ein herrliches Gebäude, in dessen Mauern man die wechselvolle Geschichte ebenso wie im angrenzenden Park förmlich atmen kann. Allerdings atmet man heute auch sehr viel Kommerz und Vermarktung ein, weil die Aufrechterhaltung des Anwesens es offenbar erfordert. Ein ausführlicher Wikipedia-Eintrag schildert die wechselvolle Geschichte. Christoph Westermeier ist heute im Künstlerischen Vorstand des Künstlervereins Malkasten und übernimmt die Begrüßung. Er ist in Köln geboren, hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und währenddessen wenigstens noch halbherzig ein Seminar des heute Vortragenden besucht. Umso mehr Aufmerksamkeit wünscht er sich vom heute Abend anwesenden Publikum.

Paul Good war von 1983 bis 2008 Professor für Philosophie an der Kunstakademie. Geboren in Mels in der Schweiz lebt der heute 80-Jährige in Bad Ragaz und unterhält dort ein Philosophie-Atelier für Buch- und Tagungsprojekte. Bereits in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1973 hat er sich mit Fiktion und Funktion der Sprache beschäftigt. Da ist nachvollziehbar, dass er jetzt das Buch Mein Heraklit herausgebracht hat. Heraklit ist für die Philosophie bis heute von Interesse, weil er nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Good betont beispielsweise, dass er Heraklit nicht neu, sondern „anders“ übersetzt habe.

Einem emeritierten Philosophie-Professor zuzuhören, führt einen entweder in den Irrsinn oder, wie in Goods Fall, zu dem guten Gefühl, deinem Opa zuzuhören, wie er dir abends vor dem Einschlafen die Welt erklärt. Er gehört definitiv nicht zu den Philosophen, die medienwirksam den Weltuntergang prophezeien und dafür gleich eigene Rezepte zur Hand haben. „Ich bin nicht subjektiv unterwegs, sondern sprachbegründet“, sagt er. Viel lieber horcht er in der Vergangenheit bei Heraklit und seinen Besonderheiten der Sprache nach, um vielleicht Rezepte für die Zukunft zu finden – was derzeit zum wahrscheinlich Abwegigsten gehört, was sich die aufgeregte Öffentlichkeit und insbesondere die Jugend vorstellen kann. Von 126 zuerkannten Zitaten des griechischen Denkers hat er 80 Fragmente erneut betrachtet. Heraklit, 520 vor Christus in der griechischen Kolonie Ephesos in Ionien geboren, verweigerte Goods Ansicht nach die menschlich vorgegebenen Erkenntnisse, die seiner Meinung nach von regierenden Mächten bestimmt waren, sondern schaute auf die Natur. Und fand hier den Grundsatz, dass nicht die Gesamtheit bestimmend sei, sondern der Blick auf die einzelnen Teile. „Wir sollten wieder verbinden, was Wörter trennen“, zitiert Good die Schriftstellerin Etel Adnan. Und fügt einen Ausspruch René Charls hinzu: „Neben dem Verhängnis stelle den Widerstand gegen das Verhängnis.“

Stefan Steiner – Foto © O-Ton

In diesem Kontext stellt Good weitere scheinbare Gegensätze vor, die man als Einheit begreifen muss, um Heraklits Sicht auf die Welt zu verstehen. Da stehen beispielsweise Leben und Tod in einem Begriff zusammen. „Leben und Sterben finden gleichzeitig statt und müssen zusammengedacht werden“, erläutert der Philosoph. Aus der asiatischen Welt kennt man das als Yin und Yang. Das sagt Good nicht, es ist aber im Grunde das gleiche Verständnis.

Um im Bild zu bleiben, bleibt kein Kind wach, wenn ihm sein Großvater gleich anderthalb Stunden lang die Welt erklärt. Und schon gar nicht, wenn es um komplexe Zusammenhänge geht, egal, wie eloquent sie ihm auseinandergesetzt werden. Und so ist der Erschöpfung nach dem wunderbaren Vortrag allseits festzustellen. Auch wenn Good noch versucht, eine Verbindung seiner Ausführungen zu Hölderlin herzustellen. Von dem hat die eigens aus Basel angereiste Künstlerin Christine Fausten, eine gebürtige Düsseldorferin immerhin, vier Lieder auf dem Akkordeon vorbereitet, die Josef Matthias Hauer vertont hat. Mehr als ein geduldiges Zuhören des Publikums ist allerdings kaum mehr zu erwarten.

Vier dieser Lieder, die sie auf dem Album An eine Rose veröffentlicht hat, bringt sie nun zu Gehör. Teils gesprochen, teils gesungen unterstreicht sie die naturalistische Sichtweise und Wortpaare scheinbarer Gegensätzlichkeit, wie sie im vorangegangenen Vortrag zu Wort kamen. Eigentlich schön und eindringlich, eine vergessene Welt erzählend, die von ihrer Gültigkeit so wenig verloren hat, wie uns heute Glauben gemacht werden soll, erreicht die Künstlerin das Publikum kaum mehr als über Unterhaltungswert, weil die Konzentration darniederliegt.

Dass der Maler Stefan Steiner anschließend zu einem weiteren ausgiebigen Vortrag über seine Aquarelle anhebt, der die künstlerischen Besonderheiten des Buchs erklären will, übersteigt dann die Aufnahmefähigkeit der Besucher. Das wird der Arbeit des Malers nicht gerecht, der für dieses Buch nach eigener Aussage über 1.000 Aquarelle angefertigt hat, um sich in die Arrhythmie der Fragmente einzufügen. Aber es ist, wie es ist. Nach zwei Stunden wird er von Westermeier freundlich, aber bestimmt abgewürgt. Und es gibt niemanden im Raum, der ihm das verübelt. Nichtsdestotrotz werden einem die Gedanken des Philosophen, der die Zukunft der Gesellschaft nicht im Individualismus im Sinne eines „jeder macht, was er will“, sondern als Beitrag eines jedes einzelnen, auch des Schwächsten, zu einer Gemeinschaft beiträgt, sieht, lange nicht aus dem Kopf gehen. So viel Heraklit muss sein.

Michael S. Zerban