O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

In tiefer Nacht

LINA_RAÜL REFREE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
16. September 2020
(Einmaliges Gastspiel)

 

Mitsubishi Electric Halle, Düsseldorf

Fado und Saudade – die vielleicht wichtigsten beiden Wörter der portugiesischen Sprache. Beide sind eng miteinander verbunden. Fado könnte man als portugiesischen Blues betrachten. Entstanden ist dieser abgrundtief traurige Gesang, der eben allen Weltschmerz, alle unbestimmte Sehnsucht dieser Welt, also Saudade, zum Ausdruck bringen will, im Lissaboner Stadtteil Mouraria, einer Gegend, die man früher als Armenviertel bezeichnete. Hier fanden sich die Seefahrer-Kneipen, in denen alles zusammenkam, was man brauchte, um geschundene Seelen auf die Meere oder zu den Sternen oder der verlassenen Geliebten zu tragen. Viele Zutaten brauchte man ja nicht. Eine portugiesische Gitarre, eventuell war auch noch ein Bass da und vor allem der Gesang. Der Text war nie so bedeutsam, er konnte allenfalls die Sehnsucht in der Stimme noch unterstreichen. Wer guten Fado hört, schmeckt den würzigen Duft von Erde, das Salz des Meerwassers, fühlt eine leichte Brise und heiße Sonne im Gesicht, spürt dieses tiefe Ziehen im Herzen.

Später hielt die Musik Einzug in die Salons der portugiesischen Stadt, wurde den Regeln der Tradition unterworfen und verlor damit auch seine Ursprünglichkeit, nie aber die Grundidee. Viele haben sich daran versucht, eine der berühmtesten Sängerinnen aber war und ist bis heute Amália Rodrigues. Eine ihrer größten Bewunderinnen ist Lina. Lina stammt aus einer Familie, die den Fado mit ihr in der dritten Generation pflegt. Sie studierte Operngesang, aber der Fado ließ sie nicht los. Auf der Bühne verkörperte sie die Fado-Königin, und bis zum großen Shutdown sang sie zuletzt vier Mal in der Woche im renommierten Clube de Fado. Immer traditionsbewusst, immer seelenvoll.

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Raül Refree stammt aus Barcelona und hatte mit Fado nichts am Hut. Er kannte weder dessen klassisches Repertoire noch die berühmten Sängerinnen. Spanier und Portugiesen haben kein sonderlich herzliches Verhältnis zueinander. Stattdessen beschäftigte er sich seit seiner Jugend mit eigener Musik, die am liebsten an vielen Instrumenten entsteht. Und das durchaus erfolgreich. Seine experimentellen Alben mit der Flamenco-Sängerin Rosalia brachten der den Durchbruch. Von hier an gibt es zwei Versionen. Refree erzählt, dass ihn die Agentin Linas, Carmo Cruz, angesprochen habe, weil sie seine Alben gehört habe und sich vorstellen könne, so etwas auch mit Lina zu machen. Lina hingegen proklamiert die Entdeckung Refrees für sich. „Ich lud Raül dazu ein, mein Album zu produzieren“, sagt sie.

Denn längst schon war ihr klar, dass es da noch mehr geben musste als die ewige Reproduktion klassischen Repertoires. „Ich wollte mit dem Fado etwas anders machen“, erzählt sie. Dass es ihr – und Raül – gelungen ist, war der Grund für Christiane Oxenfort und Andreas Dahmen, den beiden künstlerischen Leitern des Düsseldorf-Festivals, das Paar in die Mitsubishi Electric Halle in der Landeshauptstadt einzuladen. Dort sollen sie das Programm vorstellen, das im Januar vergangenen Jahres auf ihrem Album erschienen ist und nicht weniger bedeutete, als den Fado ins 21. Jahrhundert zu transportieren.

Obwohl das Düsseldorf-Festival hier einen echten Leckerbissen präsentiert, reagiert das Publikum mit Zurückhaltung. Gerade mal das Parkett ist halbwegs gut besetzt. Das ist bedauerlich, aber durchaus im Trend. Hatten die Veranstalter geglaubt, kulturelle Aufführungen würden bei nächstmöglicher Gelegenheit geradezu gestürmt, müssen sie nun erstaunt feststellen, dass ein Großteil des Publikums es vorzieht, zu Hause zu bleiben, egal, welche Pretiosen auf der Bühne feilgeboten werden. Das lässt für die Zukunft wenig Gutes ahnen. Auch die Vorstellung, mit einer Maske vor dem Gesicht mehr als eine Stunde in einer Aufführung sitzen zu müssen, sorgt für so viel Ablehnung, dass selbst die Notwendigkeit, Kultur gerade jetzt zu unterstützen, in den Hintergrund tritt. Umso herzlicher begrüßt Oxenfort die Gäste, die gekommen sind. Nach dem üblichen ausschweifenden Dank an die Sponsoren übernimmt Dahmen und leitet auf die besondere Bedeutung des heutigen Gastspiels über.

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Wer ein Konzert besucht, möchte die Akteure live sehen. Dafür hat er in der Regel viel Geld ausgegeben. Bei Lina und Refree scheint es erst mal in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückzugehen, in denen womöglich nur Kerzen die Schänken erhellten, in denen die Fadistas auftraten. Und bis auf kurzes „Wetterleuchten“ wird sich daran auch nicht viel ändern. Dabei gab es in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts schon genug Traurigkeit, Schrecken und Sehnsucht im grellen Licht der Gegenwart, als dass es hülfe, sich in der Dunkelheit zu verstecken.

Wie also gelingt es den beiden, sich den Ruf zu erwerben, den Fado weiterentwickelt zu haben? Lina hat an ihrem Gesang bewusst nichts verändert, wie sie immer wieder betont. In ihrer Stimme lebt Amália weiter, wenn man so will. Refree ist derjenige, der die Veränderung besorgt. Gitarren gibt es an diesem Abend nicht. Stattdessen vertieft sich der Musiker ganz in seinen Synthesizer, die analogen Modulwandler und den Flügel, den er auch schon mal intensiv zupft. Immer aber ordnet er seine Klänge der Stimme Linas unter, beflügelt sie und verfolgt sie. So wird der Abend trotz aller Ausreißer in eine vermeintlich gegenwärtige Musik zum Genuss, denn Lina ist nach wie vor eine Meisterin ihres Fachs, die sich ganz auf das Repertoire Amálias einlässt. Dabei unterlässt sie jede Imitation, sondern findet dank einer wunderbar ausgebildeten und geübten Stimme ihren eigenen Weg des Leidens, wenngleich der ausschließlich in einer Innenwelt bei geschlossenen Augen möglich scheint.

Dass das Publikum an diesem Abend noch viel gewonnen hätte, wenn es ein Programmheft gäbe, ist klar. So weiß es wenig über die beiden, die da auf der Bühne stehen und hat keinen Zugriff auf die Texte. Hier gibt es dringenden Nachholbedarf beim Festival.

Sieht man von der Verdunkelung ab, von der die Techniker stolz sagen, dass sie die auswendig können, kann sich das Publikum aber ganz einem modernen Fado hingeben, der nichts von der Faszination des alten eingebüßt hat. Dem Düsseldorf-Festival ist abermals ein Coup gelungen. Es wird jetzt dringend Zeit, dass die Düsseldorfer und Gäste aus dem Umland wieder „ihre“ Kultur unterstützen und in die verbleibenden Aufführungen der zweiten Hälfte des Festivals strömen. Ein zukünftiger Verzicht auf die Perlen dieses Festivals, die sich schon in dieser „Notausgabe“ an einer Schnur aufreihen lassen und noch bevorstehen, kann niemand wirklich wollen.

Michael S. Zerban