O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Küste in Sicht

LANDFALL
(Pascal Touzeau)

Besuch am
18. Dezember 2024
(Uraufführung)

 

Pascal Touzeau & Co im ES365, Düsseldorf

Send in the clowns: So sagt man im amerikanischen Theater, wenn die Show nicht so gut läuft. Mit anderen Worten: Lasst uns Witze machen. Stephen Sondheim schrieb 1973 einen Song mit dem Titel zu dem Musical A Little Night Music. Es wurde eines seiner beliebtesten Stücke und vor allem durch Frank Sinatra, später durch Judy Collins berühmt. Entscheidend ist dabei wohl weniger der Text, sondern die Stimmung, die das Lied vermittelt. Die Situation ist so richtig verbockt, jetzt können nur noch die traurig-lustigen Menschen helfen, die dem Leben Grimassen schneiden. Aber wo sind sie? Vergebens warten wir auf sie, geben aber die Hoffnung nicht auf. Vielleicht kommen sie nächstes Jahr … Mit einem Rest an Zuversicht endet das Stück.

Choreograf Pascal Touzeau hat Send in the Clowns zu einer Art Leitmotiv seiner neuesten Arbeit auserkoren. Es ist ein vorweihnachtliches Stück, wenn man seinen Aussagen über das Werk folgt: „Die Feiertage sind eine Zeit des Zusammenkommens und der Rückbesinnung auf vergangene Jahre. In unserem zeitgenössischen Tanzstück Landfall setzen wir uns mit der bittersüßen Erfahrung auseinander, die diese Reflexion für manche mit sich bringt“. Bewusst wird hier auf den Begriff Ballett verzichtet. Es soll also in eine andere Stilrichtung gehen als in What if, dem Ballettstück, das Touzeau vor etwas mehr als einem Monat an dem Double-Bill-Abend Drift der Nowaday Dance Company vorstellte.

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Der Spielort ist der gleiche geblieben. Pascal Touzeau & Co lädt erneut ins ES365 in den Düsseldorfer Stadtteil Lierenfeld ein, jene stillgelegten Verkaufsräume in der Erkrather Straße, von denen nun festzustehen scheint, dass sie für die kommenden zehn Jahre als Ort der Kultur dienen werden. Was hoffentlich auch dazu führen wird, dass hier die eine oder andere bauliche Verbesserung vorgenommen werden wird. Heute Abend ist es in der Halle jedenfalls kälter als draußen. Da kann man froh sein, wenn man sich warm genug angezogen hat, um eine Dreiviertelstunde Stillsitzen auszuhalten.

Und wenn Landfall in Sicht kommt. Unter dem Begriff Landfall versteht man sowohl in der See- als auch in der Luftfahrt den Küstenpunkt, der vom Meer aus als erstes zu sehen ist und der dann der Weiterfahrt oder dem Weiterflug unter Sicht dient. Das mag einerseits der Hoffnungsschimmer sein, den das Stück verspricht, ist aber auch Reminiszenz an das Album gleichen Titels von Laurie Anderson und dem Kronos-Quartett, aus dem ein Großteil der Musik des heutigen Abends entnommen ist. Die Musik nimmt ohnehin einen großen Stellenwert in dem Tanztheater ein. Nicht nur, dass sie von der Festplatte kommt – leider eine kleinere Musikanlage als bei Drift und damit wird der Klang schon fast grenzwertig – sondern Touzeau lässt auch kleine Stücke live singen. So singt Bass-Bariton Thomas Huy beispielsweise mit einer Tänzerin a cappella Send in the Clowns, übernimmt aber auch das Bass-Solo zu einer Aufnahme des Mozart-Requiems. Das hätte eine noch bessere Idee sein können, wenn Huy sich in diesen Fällen nicht im Hintergrund aufhielte, sondern am vorderen Bühnenrand die wohlklingende Stimme zum Besten gäbe.

Die Bühne läuft nun nicht mehr längs zur Halle, sondern nimmt die vordere Hälfte ein. Rechts im Hintergrund steht eine beleuchtete Leiter, links weiter vorn ist ein Tisch mit Stühlen aufgebaut, unter dem zunächst verdeckt ein Spiegel liegt, der im weiteren Verlauf in verschiedenen Positionen zur Geltung kommt. Ein Einkaufswagen, wie man ihn aus dem Baumarkt für größere Einkäufe kennt, dient Huy als Transportmittel. Maßgeblichen Anteil an der Bühnengestaltung hat Sebastian Mejia als Lichtgestalter übernommen. Denn Traversen für Scheinwerfer sind in der ehemaligen Autohalle nicht vorgesehen, und so muss Mejia sich mit Hilfe von Neonröhren, Stehlampen und ein paar kleinen Scheinwerfern ganz schön was einfallen lassen, um geeignetes Licht in den Raum zu bringt. Das gelingt ihm fabelhaft. Touzeau nimmt an einem kleinen Tisch vor dem rechten Bühnenrand Platz, um von dort aus Licht und Musik zu steuern. Ausgeklügelt sind die unterschiedlichsten Sitzgelegenheiten für die Zuschauer aufgestellt – und dürfen deshalb auch nicht bewegt werden – damit jeder wirklich freie Sicht auf das Geschehen hat.

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In diesem Ambiente dürfen sich nun die Tänzerinnen Alice Hunter, Anri Hirota, Caroline Powell und Luisa Stehmann tummeln, die bereits in What if aufgetreten sind. Mit dicken Wollpullovern zu Trikothosen, über denen sie Netzstrumpfhosen tragen, geraten die Kostüme ungewöhnlich, betonen aber insbesondere die Beinarbeit. Wenn die vier zunächst am Tisch Platz nehmen, gewinnt man schnell den Eindruck, einer abstrakten Familienfeier beizuwohnen. Da legen die Tänzerinnen immer wieder mal ermattet die Häupter auf die Tischplatte. Aber echte Solidarität will sich dann auch wieder nicht einstellen, eine tanzt immer aus der Reihe. Wobei der Begriff Tanz relativ ist. Auf den Spitzentanz verzichtet Touzeau diesmal, räumt stattdessen jeder einzelnen Tänzerin ausreichend Raum für ihre athletischen bis grazilen Posen ein. Bewegung erfolgt oft im Schritttempo, erst recht dann, wenn Huy auf seinem Einkaufswagen durch die Gegend transportiert wird. Es geht im Grunde zu wie fast überall an den Festtagen. Hier treffen Individuen aufeinander, die sich oft genug das ganze Jahr über nicht sehen, nun aber miteinander auskommen müssen. Da finden sich vorübergehend kleinere Gruppen zusammen, der einzelne nutzt die Gelegenheit, sich schnell mal auszutoben, ehe die Versuche, gemeinsam etwas zu spielen, schnell versanden.

Der Wirklichkeit entrückt, während sich bei den Zuschauern das Frösteln hinzugesellt, entsteht ein Panoptikum, an das sich wohl viele später – vermutlich mit einem leisen Lächeln – zurückerinnern werden, wenn sie selbst ihre Familien und deren Miteinander unter dem Weihnachtsbaum erleben werden. Bei wenigen Besuchern fällt der Applaus ein wenig dünn und trotzdem ausgesprochen herzlich aus, auch wenn ein wenig Irritation aufkommt, weil Touzeau sich nicht auf die Bühne begibt, sondern sich im Halbdunkel am Bühnenrand verbeugt. Sicher wäre der eine oder andere Besucher auch noch auf ein Getränk geblieben, das aber mangels Masse ausfällt. Und auf irgendwas, abgesehen von der überzeugenden Choreografie, wunderbaren Tänzerinnen und einem Sänger in ungewöhnlicher Rolle muss man sich ja im neuen Jahr freuen können.

Für alle, die nicht dabei waren, gibt es weitere Vorstellungen von Landfall am 19., 20., 21. und 22. Dezember, jeweils um 20 Uhr.

Mehr Bilder der Aufführung sind hier zu sehen.

Michael S. Zerban