O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ingo Schäfer

Aktuelle Aufführungen

Tänze der Macht

KRABAT
(Demis Volpi)

Besuch am
10. November 2022
(Premiere)

 

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Opernhaus Düsseldorf

John Neumeier, seit 1973 Ballettchef in Hamburg und inzwischen 83 Jahre alt, hat seinen Nachfolger bestimmt. Ach nein, eine Findungskommission hat den Nachfolger bestimmt. Dass es einen Generationenwechsel in Hamburg geben musste, war klar. Dass die Wahl auf Demis Volpi fiel, überraschte denn doch ein wenig. So wie schon die Überraschung groß war, als Intendant Christoph Meyer in Düsseldorf vor drei Jahren Volpi als Nachfolger von Martin Schläpfer aus dem Hut zauberte. An seiner vorangegangenen Wirkungsstätte Stuttgart hatte er genau einen großen Erfolg. In den vergangenen drei Jahren blieb selbst der aus. Wenn man es positiv formulieren will, konnte er einige Achtungserfolge verzeichnen. Für eine Ballett-Compagnie der Größenordnung Düsseldorfs möchte man mehr erwarten. Da kann schon mal die Idee entstehen, den „Publikums-Hit“ aus Stuttgart knapp zehn Jahre später in Düsseldorf erneut aufzuführen.

Zehn Jahre lang schrieb Otfried Preußler an seinem Roman Krabat, der auf einer sorbischen Sage basiert. Seitdem das Buch 1971 veröffentlicht wurde, wird es als „Jugendbuch“ vermarktet. Tatsächlich ist es für das Pubertier genauso spannend, unheimlich und fantasievoll wie für den Erwachsenen. Wer den jungen Krabat auf seinem Weg in eine nahezu hermetisch abgeschlossene Gesellschaft begleitet, erlebt ihn als Auszubildenden in einer Mühle, in der es nicht mit rechten Dingen zugeht. Inmitten der harten, unerbittlichen Arbeitswelt herrscht ein Magier, der bei „guter Führung“ viel verspricht. Heute spräche man wohl eher von einem „Coming-of-age“-Buch. Krabat rebelliert gegen die Unmenschlichkeit des Magiers, verliebt sich in ein Mädchen aus dem nahegelegenen Dorf, was „natürlich“ streng verboten ist, und sucht nach einem Weg in die Zukunft. Und selbstverständlich gibt es noch eine Vielzahl anderer Interpretationsmöglichkeiten. Der Roman ist einfach so komplex, dass er sich im Grunde jeder Umsetzung in ein anderes Genre verschließt. Was niemanden abschreckt, sich daran zu versuchen. Als der junge Tänzer und aufstrebende Choreograf Volpi in Stuttgart den Auftrag erhielt, ein Kinder- und Jugendstück zu erarbeiten, das auch für die Erwachsenen funktioniert, entschloss er sich, Krabat zu vertanzen und schuf damit sein erstes Handlungsballett. Die Dramaturgin und Pressesprecherin Vivien Arnold schrieb ihm das Libretto dazu.

Die Fassung, die in Stuttgart für so viel Furore sorgte, wird nun auch in Düsseldorf gezeigt. Dazu muss man wissen, dass bei den Stuttgartern ziemlich egal ist, was getanzt wird, Hauptsache, die Tanzfreunde dort sehen ihre Compagnien auf der Bühne. In Düsseldorf wird seit jeher sehr viel Wert auf den Choreografen gelegt, während die Tänzer kaum namentlich bekannt sind. Julia Schinke, die seit dieser Spielzeit als Ballettdramaturgin an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg arbeitet, hat das Projekt Krabat betreut. Und vorbildliche Arbeit geleistet. Kaum ein Aspekt, der nicht schon im Vorfeld beleuchtet wird. Selbst jemand, der das Buch nicht gelesen hat, darf sich hier gut informiert fühlen.

Der Vorhang öffnet sich, und das Publikum schaut auf Raben. Für Bühnenbild und Kostüme ist Katharina Schlipf zuständig. Sie bringt das Publikum zum Staunen. Im Hintergrund und an den Seiten sind 1.500 „Mehlsäcke“ so kunstvoll aufgebaut, dass sie wie eine Wand wirken, in Wirklichkeit aber Gänge und Aufgänge bieten. Wenn es in die Außenwelt geht, wird eine bemalte Leinwand herabgelassen. Um der „Aktualität“ gerecht zu werden, tragen die Tänzerinnen lange Kleider, die Tänzer Westen und Hosen, also zeitlose Kleidung. Der Meister zeichnet sich durch einen besonders wertig erscheinenden Mantel und eine Augenklappe aus. Besonders eindrucksvoll sind die Kostüme für den Gevatter. Bonnie Beecher hat die richtigen Regler bewegt, um für ein passendes, wenn auch weitgehend unspektakuläres Licht zu sorgen. Volpi konzentriert sich darauf, die Handlung verständlich zu erzählen. Und das gelingt ihm auch. Auf der Strecke bleiben dabei bis auf wenige Ausnahmen die psychologische Tiefe und die tänzerische Finesse. Immerhin werden hier Freunde des Spitzentanzes ihre wahre Freude haben. Ansonsten wird wenig geboten. Die Kampfszene zwischen dem Meister und dem Gevatter, sicher als einer der Höhepunkte des Abends gedacht, ist unpräzise choreografiert. Gelungen ist als große Ausnahme das Solo Krabats, als der sich mit dem Angebot auseinandersetzen muss, die Mühle zu übernehmen. Prompt wird es mit Szenenapplaus bedacht.

Dabei hat der Choreograf ein großartiges Ensemble zur Verfügung. Das Corps arbeitet sehr genau, egal, ob es um die angehenden Müller oder die Mädchen aus dem Dorf geht. Dem Meister, den Damián Torio bei geringen Anforderungen leichterdings beherrscht, fallen außer ein paar komischen Schritten wenig sinnvolle Tanzbewegungen ein. Lara Delfino übernimmt die Rolle des Gevatters und kann vor allem in der Kampfszene Freunde im Publikum gewinnen. Als Kantorka, Krabats Freundin, darf Emilia Peredo Aguirre glänzen. Mit wunderbarer, fast federgleicher Leichtigkeit tanzt sie sich in die Herzen. Miquel Matinez Pedro ist die gelungene Besetzung für Krabat. Seine jungenhafte Erscheinung gefällt. Ihn hätte man tänzerisch sicher mehr fordern dürfen.

Neben der Ausstattung darf man Volpi vor allem zur Wahl der Musik gratulieren. Hier ist ihm ein echter Coup gelungen. Auszüge aus Streichquartetten von Pēteris Vasks, Extrakte aus den Konzerten für Cello respektive für Geige und Orchester von Philip Glass sowie Eindrücke aus der Ersten Sinfonie von Krzysztof Penderecki werden gemischt mit Originalaufnahmen der Mühlenarbeit, die Christoph Kirschfink arrangiert und eingerichtet hat. Katharina Müllner zeigt mit den Düsseldorfer Symphonikern, welche Hochspannung in der Musik steckt. Das ist schlicht großartig. Ein Hörerlebnis der besonderen Art.

Nach zweidreiviertel Stunden, die man sicher noch einkürzen könnte, ohne etwas – außer der Musik – zu verpassen, applaudiert das müde Publikum im gut besuchten Saal allen Beteiligten. Und während die Besucher zum Ausgang strömen, hört man viele Stimmen, die dem Stück in Düsseldorf einen ähnlichen Erfolg voraussagen, wie es ihn vor zehn Jahren in Stuttgart feiern konnte.

Michael S. Zerban