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Sehnsuchtsklänge

KONZERT IN DEN MAI
(Edvard Grieg, Richard Strauss et al.)

Gesehen am
30. April 2020
(Livestream)

 

Tonhalle Düsseldorf

USA, Venezuela, München, Coburg, Duisburg, Hannover: Eine solche Reichweite hat die Tonhalle Düsseldorf vermutlich noch nicht erlebt. In der Spitze knapp 1.000 Zuschauer versammeln sich vor den Bildschirmen, um das Konzert in den Mai zu erleben, den Stream eines Live-Konzertes aus der Tonhalle. In Kooperation mit der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, vor allem aber dem Gesundheitsamt und der Arbeitssicherheit hat die Tonhalle Düsseldorf das Konzert ermöglicht. Die Faszination des Abends schwankt zwischen musikalischer Leistung, der Ton-Übertragungsqualität und den Hygiene-Maßnahmen. Letztere vermitteln schon einmal einen Eindruck davon, was in naher Zukunft bevorstehen könnte, wenn die Bühnen endlich wieder eine Arbeitserlaubnis bekommen. Die Orchesterwarte haben alle Hände voll zu tun, Stühle und Pulte exakt so anzuordnen, dass die Sicherheitsabstände eingehalten werden, zwischen den Wechseln der Instrumentengruppen wird der Boden gewischt und die Musiker haben vermutlich mehr Probenzeit auf die Auf- und Abgänge in ausgeklügelter Logistik verwendet als auf die Musik. Und da ist noch kein Publikum im Saal. Die Zukunft wird spannend; wobei die Frage erlaubt sein muss, ob die Intensität der Maßnahmen angesichts permanent abnehmender Infektionsraten dann nicht doch ein wenig überzogen erscheint.

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Ach ja, es fand ja auch noch ein Konzert statt. Michael Becker, Intendant von Tonhalle und Düsseldorfer Symphonikern, übernimmt die Moderation des Abends. Gruß an die Abonnenten: Sie sehen das, was sie immer zu Beginn des Abends sehen. Der Intendant stellt sich an die linke, vordere Ecke der Bühne und schaut ins Publikum. Alle anderen mögen sich wundern, warum er nicht direkt vor eine Kamera tritt. Generell bietet die Kameraführung Abwechslung, aber da gibt es noch viel Luft nach oben. Die Moderation Beckers hingegen ist gewohnt souverän. In den „Umbaupausen“ stehen Sopranistin Heidi Elisabeth Meier und Dirigent Axel Kober für Gespräche zur Verfügung. So bleiben Längen aus. „Es ist schon ein bisschen einsam erstmal, aber man hat ja sich auf der Bühne“, erzählt Meier, nach ihrem ersten Eindruck befragt, vor einem leeren Saal zu singen. Später erzählt sie ein wenig davon, wie sie die letzten sechs Wochen verbracht hat. Kochbücher habe sie sich angeschafft und in der Gartenarbeit verdient gemacht. Auch Kober treibt den Scherz weiter. „Ich habe schon Schwielen an den Fingern – vom Mensch-ärger-dich-nicht-Spielen“, ulkt er, um ernsthafter hinzuzufügen, wie er die Zeit empfunden hat. „Es ist alles wie unter einer dunklen Wolke.“

Dunkle Wolken gibt es in der Tonhalle nicht. Dafür ein ausgeklügeltes Programm. Zunächst treten acht Streicher der Düsseldorfer Symphoniker auf – Kober und Meier gleich mit ihnen, damit es mit der Logistik hinhaut. Sie eröffnen mit der Suite von Edvard Griegs Aus Holbergs Zeit. Der dritte Satz wird durch Solveigs Lied aus Peer Gynt ersetzt. Da stellt sich von der ersten Sekunde an Begeisterung ein. Die Streicher stehen sehr weit auseinander, was das Zusammenspiel bekanntlich deutlich erschwert. Trotzdem funktioniert es formidabel. Meier stellt sich ungewohnt ganz links neben dem Orchester auf und erfreut von der ersten bis zur letzten Note mit einem lupenreinen, wunderschönen Gesang, der genau die „Corona-Melancholie“ vermittelt, die sich die Musiker davon versprochen hatten. Auffällig ist die Klangqualität am heimischen Computer, für die Ingo Schmidt-Lucas verantwortlich zeichnet. Eine Steigerung kann man nur noch erreichen, wenn man Kopfhörer aufsetzt, weil dann die Kunstkopfaufnahme greift, die noch einmal einen außerordentlich räumlichen Effekt ermöglicht. Leider findet sich nirgends ein Hinweis darauf, so dass dieses Bonbon nur wenigen gereicht wird.

Nach dem fulminanten Einstieg gibt es das Streicher-Sextett aus dem Cappriccio von Richard Strauß. Nach dem leicht parfümierten Beginn bekommen die Musiker Gelegenheit, ihre Virtuosität zu zeigen. Axel Kober, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein, hat sichtlich seine Freude daran. Und obwohl die Proben nach seinen Angaben erst am Montag begannen, kann er sich jetzt auf „Streicheleinheiten“ im Dirigat beschränken. Ganz profund werden hier die Emotionen herausgekitzelt, während die Hörer sich im Live-Chat vor Begeisterung fast überschlagen.

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Mit der Suite B-Dur für dreizehn Bläser, opus vier, also einem Frühwerk von Richard Strauss, empfehlen sich die Holzbläser und Hörner. In dem viersätzigen Werk spielen die Symphoniker die Größe des Stückes sehr schön heraus. Der Farbreichtum wird wunderbar dargestellt.

Im letzten Teil des Konzerts gibt es einen Ausflug in das Barock. Das Schöne daran: Die ausgewählten Werke sind allesamt für Blechbläser arrangiert worden. Und so erleben die Zuschauer eine Sternstunde des Blechs in der Tonhalle mit Werken von Georg Friedrich Händel, Giovanni Gabrieli und Samuel Scheidt.

Dass die Moderation des Live-Chats im letzten Teil ins Schleudern kommt, ist nicht weiter tragisch. Denn der professionelle Eindruck überwiegt. Unter dem Video gibt es einen Einführungstext, die Live-Chat-Moderation begleitet das Konzert und sorgt für eine gute Betreuung des Publikums. Sicher wäre es schön gewesen, ein wenig mehr über die aufgeführten Werke zu erfahren, aber nachdem, was in den letzten Wochen im Internet so angeboten wurde, möchte man hier beinahe erleichtert aufatmen. Und natürlich den Kanal der Tonhalle abonnieren. Schon, um die Macher der Tonhalle zu ermuntern, ihre Arbeit im Internet weiter zu professionalisieren, was beispielsweise Kameraführung, Information oder Werkkenntnis bei der Live-Chat-Moderation angeht. Denn auch wenn viele Intendanten es noch nicht wahrhaben wollen: Es ist noch längst nicht ausgemacht, dass hier nicht eine neue Kunstform zu entwickeln ist, und wir nach der Krise einfach zum „Gewohnten“ zurückkehren.

Die Zuschauer an diesem Abend machen sich über solche Dinge so gar keine Gedanken. Sie sind erfüllt von Sehnsucht nach dem Live-Erlebnis und dem Glück, diesem berückenden Abend beigewohnt haben zu dürfen.

Michael S. Zerban