O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Alle wollen helfen

KISSIN AND FRIENDS FOR UKRAINE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
2. April 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Tonhalle Düsseldorf, Mendelssohn-Saal

Es gibt nichts stilleres als eine geladene Kanone“, schrieb Heinrich Heine in einem Artikel vom 27. Februar 1840. Seit fünf Wochen ist die bedrohliche Stille einem Angriffskrieg in der Ukraine gewichen. Die Zivilbevölkerung leidet. Wer kann, flieht aus dem Kriegsgebiet. Not herrscht allerorten. Gerade heute kommt die Nachricht, dass in Kiew eine Straße mit Leichen in Zivilbekleidung übersät gefunden wurde. Am 16. März wurde das Theater in Mariupol zerstört. Hunderte Menschen, die dort Schutz gesucht hatten, fanden den Tod. Die Deutschen wollen helfen. Allerorten gibt es Initiativen und Aktionen, um Geld zu sammeln, Hilfsgüter bereitzustellen, die Menschen, die fliehen konnten, unterzubringen.

Auch die Tonhalle in Düsseldorf will ihren Teil zur Hilfe beitragen. Und dabei ist ihr ein besonderer Coup gelungen. Mit Hilfe eines Verlages und einer Stiftung gelang es ihr, Musiker von Weltrang einzuladen, um möglichst viele Menschen in den Konzertsaal zu bringen und damit Geld einzusammeln, das der Action Medeor zugutekommt. 1964 gegründet, ist der Verein nach eigenen Angaben das „größte Medikamenten-Hilfswerk Europas“ und kümmert sich als „Notapotheke der Welt“ gerade darum, die ukrainische Zivilbevölkerung von Tönisvorst aus mit Medikamenten und medizinischem Gerät zu versorgen. Dank jahrzehntelang gewachsener Beziehungen zu den Produzenten, erzählt Vorstandssprecher Sid Johann Peruvemba, wird das Material zu besonders günstigen Bedingungen eingekauft, so dass Spenden besonders effizient eingesetzt werden können.

Die Düsseldorfer haben den Ruf vernommen. Kaum ein Sitzplatz des rund 1900 Menschen fassenden, inzwischen wieder vollständig geöffneten Mendelssohn-Saals bleibt unbesetzt. So sind bis zum Beginn des Konzerts bereits knapp 130.000 Euro zusammengekommen, am Ende des Abends werden es fast 144.000 Euro sein. Das ist möglich, weil Pianist Evgeny Kissin, Geiger Gidon Kremer, Cellist David Geringas und die Cellistin Giedre Dirvanauskaite auf die Gage für ihren Auftritt verzichten. Bereits im Februar unterzeichnete der gebürtige Moskauer Kissin mit mehr als 400 russischen Musikern einen offenen Brief, in dem sie „den russischen Überfall auf die Ukraine“ verurteilten. Unter dem Titel Kissin and Friends for Ukraine werden die vier Musiker ein zweieinhalbstündiges Konzert absolvieren, das mehr ist als eine Benefiz-Veranstaltung. Auf der schmucklosen Bühne, auf der nichts anderes als die Musik zählt, wird es ein Statement für die ukrainische Zivilbevölkerung und ihre Kultur.

Gidon Kremer eröffnet den Abend mit einer Solo-Serenade des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, der sein persönliches Musikverständnis einmal so formuliert hat: „Musik ist keine Philosophie, keine Weltanschauung. Sie ist vor allem ein Gesang, ein Lied, das die Welt über sich selbst singt, sie ist das musikalische Zeugnis des Lebens.“ Kremer legt der Serenade alle Leichtigkeit, die dem Instrument innewohnen kann, auf die Saiten und verleiht dem Stück ebensolchen Glanz wie dem nachfolgenden Requiem für Violine solo des georgischen Komponisten Igor Loboda aus dem Jahr 2014, der sein Werk „dem endlosen Leiden der Ukraine“ gewidmet hat.

Allein schon diese acht Minuten reichen, um den Abend unvergesslich werden zu lassen. Aber nicht fehlen darf das Klaviertrio Nr. 2 e-moll, opus 67, von Dmitri Schostakowitsch, einem der bekanntesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der zwei Weltkriege und den Verlust vieler Freunde in seiner Musik verarbeitete. Ist das Klaviertrio an sich schon in seinen Gegensätzlichkeiten von Trauer, Trivialität, Aufbegehren und Ohnmacht außerordentlich berührend, erfährt es in den Händen dieser Musiker eine ganz besondere Wirkung. Schließlich ist nicht die Musik allein bedeutsam, groß wird sie erst dann, wenn ihre Interpreten die Noten in Empfindung verwandeln. Und die Instrumentalisten des heutigen Abends lassen gleich eine ganze Welt an Emotionen entstehen.

Im zweiten Teil des Abends bringen Kissin und Geringas eine Sonate für Violoncello und Klavier zu Gehör, die Kissin 2016 selbst komponierte und die von Gautier Capuçon und Yuja Wang beim Verbier-Festival uraufgeführt wurde. Nach dem anspruchsvollen Stück führt Geringas John Corigliano mit seinem Fancy on a Bach Air und das Prélude aus der Suite Nr. 1 von Johann Sebastian Bach zusammen. Ein Höhepunkt dieses Abends, wenn nicht sogar der Höhepunkt ist, wenn Geringas selbst die Stimme erhebt, um sie mit seinem Cello klingen zu lassen. Da hält die Hörer nichts mehr auf ihren Sitzen. Mit Bravo-Rufen feiern sie die überwältigende Interpretation. Das Ende des Abends gehört Kissin, der mit dem zweiten Satz Pianissimo (Klage) aus dem Buch für Cello von Peteris Vasks, dem Scherzo Nr. 2 b-moll, opus 31, und der Polonaise As-Dur, opus 53, von Frédéric Chopin zeigt, welche Kunst ihm Weltruhm einbrachte.

Das Publikum erhebt sich, um sich bei den Künstlern für einen Abend zu bedanken, der selbst in der Tonhalle zu den absoluten Ausnahmeerscheinungen gehört.

Michael S. Zerban