O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Kirche schlägt Kneipe

JOHANNESPASSION
(Johann Sebastian Bach)

Besuch am
5. November 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Projektchor Düsseldorf in der Andreaskirche, Düsseldorf

Auf dieser Aufführung der Johannespassion liegt nicht viel Gutes, möchte man meinen. Mit zweijähriger Verspätung muss der Projektchor Düsseldorf jetzt froh sein, sie, wenn schon nicht in der Osterzeit, so wenigstens kurz vor der Adventszeit aufführen zu können. Inzwischen stimmt das Programmheft längst nicht mehr, aber das bekommt man durch eingelegte Kopien in den Griff, nachdem die terminlich bedingten Umbesetzungen erfolgreich absolviert sind. Ärgerlicher ist, dass in der Zwischenzeit eine Diskussion hochgekocht ist, mit der bei Probenbeginn vermutlich niemand gerechnet hat. Schließlich gehört die Johannespassion zu den beliebtesten Chorwerken. „Weg, weg mit dem, kreuzige ihn!“ schreien die „Jüden“ Pilatus zu. Die Empörung über solche Textstellen beginnt allmählich, Wellen zu schlagen. Die Flutwelle wird im nächsten Jahr erwartet, wenn die Uraufführung der Johannespassion 300 Jahre alt wird. Antisemitismus in seiner übelsten Form wird da vermutet.

Stephan Hahn – Foto © O-Ton

Ob ein Chor von Freizeitsängern, der eigentlich nur „wundervolle“ Kirchenmusik auf die Bühne bringen möchte, sich solchen Auseinandersetzungen stellen will oder kann, ist eher fraglich. Der wird im Zweifelsfall auf solch ein Werk verzichten. Damit dürfte eine „politisch korrekte“ Verarmung der Musiklandschaft vorprogrammiert sein. Bis dahin scheint die Vogel-Strauß-Politik zu funktionieren. Weder der Vertreter der Kirche noch der Chorvorstand bei ihrer Begrüßung, geschweige denn das veraltete Programmheft nehmen zu dem Konflikt Stellung. Und die zahlreichen Besucher in der Andreaskirche in der Düsseldorfer Altstadt wissen entweder nichts davon oder besitzen die Klugheit, das Libretto im historischen Kontext zu sehen.

Fast könnte nun eine „normale“ Aufführung stattfinden. Gäbe es nicht das O’Reilly’s, eine Kneipe, die der Kirche gleich gegenüber liegt. Den Gästen und der Beschallung gelingt es, eine eindrucksvolle Lautstärke zu entwickeln, die bis in die Kirche dringt. Es gehört zu den außerordentlichen Ereignissen des Abends, dass sich weder Choristen, Musiker noch die Solisten davon aus der Ruhe oder dem Takt bringen lassen. Das ist aller Ehren wert. Zumal das Publikum jede Unterstützung vermissen lässt. Kein Auftrittsapplaus für Orchester, Chor oder Dirigenten. Geradezu gespenstische Stille.

Joachim Streckfuß – Foto © O-Ton

Aber können einen solche Dinge nach mehr als zwei Jahren Wartezeit noch beunruhigen? Offenbar nicht. Stephan Hahn, Chorleiter und Dirigent des heutigen Abends, führt Chor und Orchester ruhig, konzentriert und unaufgeregt durch die Partitur. Während das Orchester mit einer formidablen und ausgeglichenen Begleitung aufwartet, glänzt der Chor mit einer ausgesprochen differenzierten Gesangsleistung. Die Akustik der Kirche erlaubt zwar nur sehr bedingt Textverständlichkeit, aber den Choristen gelingen feine Abstufungen von großem Glanz über spannungsgeladene Strecken bis zu jubelnden Schlussklängen.

Johann Sebastian Bach wurden seinerzeit zu opernhafte Klänge vorgeworfen. Ob das für die Kirchenmusik, die die Johannespassion dem Ursprung nach ist, tatsächlich gilt, mag jeder für sich selbst entscheiden. Dem Abend jedenfalls kommen solche „Vorwürfe“ wunderbar entgegen, vor allem, wenn es um die Auftritte der Solisten geht. An erster Stelle ist da sicher Joachim Streckfuß als großartiger Evangelist, also Erzähler der Passion, zu erwähnen. Er schreckt selbst dann nicht vor einem Piano zurück, wenn die Party in der Gaststätte gerade einem neuen Höhepunkt entgegenbrüllt. Choristin Pia Schwarz gelingt die Magd etwas aufgeregt, was aber gleich von ihrem Kollegen Han Saem Park als Diener wieder aufgefangen wird. Richard Logiewa mimt Jesus mit schönem Bass. Mit profundem Bass als Pilatus wartet auch Manfred Bittner auf, der geradezu darstellerische Fähigkeiten zeigt. Allerdings ist vom Spott des Pilatus nichts zu hören. Robert Reichinek bringt als Tenor eine ungewöhnliche Klangfarbe ins Spiel, die eher an einen verhinderten Counter erinnert. Petrus gibt Ferdinand Krumbügel ohne bleibenden Eindruck. Altistin Karin Wöpking und Sopranistin Annabel Heinen gefallen, wenngleich die Koloraturen etwas matt ausfallen. In der Gesamtheit entsteht ein schönes Klangbild, das kaum Wünsche offenlässt.

Das sieht auch das Publikum so, das sich nach knapp zwei Stunden mit begeistertem Applaus ausdauernd bedankt. „Herr Jesu Christ, erhöre mich, ich will dich preisen ewiglich“. So lauten die letzten Worte der Johannespassion, die für Gläubige unabhängig vom Kirchenjahr gelten mögen. Und vielleicht ist es dann auch nicht so wichtig, welche Umstände zum Tod des Erlösers geführt haben.

Michael S. Zerban