O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Karlfried Haas, Lothat Blum, Rolf A. Scheider und Dmitri Vargin (v.l.n.r.) - Foto © Ulrike Schumann

Aktuelle Aufführungen

Blutiges Opfer als Kulturgut

JOHANNESPASSION
(Johann Sebastian Bach)

Besuch am
7. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Matthäikirche Düsseldorf

Wenn sich Matthäi-Choristen, Matthäi-Symphoniker nach zwei Stunden hörbar beglückt in die Wiegeklänge des Schlusschors werfen, geht ein Aufatmen durch den Raum. Endlich eine Musik, die, unmissverständlich, das Ende der Konflikte ankündigt, denen sich die Beteiligten so quälend gründlich hingegeben hatten. Man spürt: Mit diesem Dreier, im Prinzip ein Walzerrhythmus, den es zu Bachs Zeiten noch gar nicht gab, ist die Passion ausgestanden, weswegen das „Ruhet wohl“ des Chores, seine Versicherung, „die heiligen Gebeine nicht länger zu beweinen“, wohl von jedem in der vollbesetzten Matthäikirche begrüßt wird. Von Herzen sozusagen. Denn auch wenn der künstlerische Leiter Karlfried Haas in seinem Grußwort einen „eindrücklichen und anregenden Konzertabend“ gewünscht hat, das Moment von Distanzierung, das darin impliziert ist, gestattet ein auskomponiertes Bachsches Passions-Oratorium nicht. Selbst wenn es den Rahmen der Karfreitagsliturgie, für die es konzipiert war, längst abgestreift hat und ohne Predigt auskommt – nach dem Ende des ersten Teils – der Einhundertzwanzig-Minuten-Parcours um ein blutiges Opfer, das erzwungen werden muss wegen „unserer Sünden“, ist selber eine einzige Bußpredigt.

Dass diese im Gewand einer ergreifenden, von Schönheiten überquellenden Musik daherkommt, fesselt die Gemüter bis heute. Und ist der Grund, weshalb in diesem Fall eine Emmaus-Kirchengemeinde zu Düsseldorf die Anstrengung einer monatelangen Vorbereitung auf sich nimmt. Man kann da letztlich nur gratulieren! Allen voran der Kantorei, der in diesem, das Leiden durchpflügenden Seelenrettungs­unternehmen, das erste wie das letzte Wort zufällt. Die im Altarraum auf bis zu fünf Reihen ausgefalteten Choristen, annähernd 80 Stimmen, mobilisieren, zumal in den Chorälen, ihren ganzen oratorischen Matthäi-Wohlklang. Was anfängt beim düster dahinfließen­den g-moll des Eingangschors, in dem die stechenden Intervallsprünge von Flöten und Oboen sämtliche Dornen, Nägel, Backenstreiche dieses Kreuzweges vorwegnehmen. Von hier bis zum herzergreifenden A-Cappella-Schlusschoral Ach Herr, lass dein lieb Engelein, ein Klassiker noch jeder zweiten christlichen Beerdigung, ist die Kantorei bei sich selbst. Andererseits: Ein auf Oratoriumsformat ausgeformter Klangkörper gerät unweigerlich an gewisse Grenzen, etwa wenn Bachs elaborierte Satztechnik für die Bass-Arie Nr. 24 Eilt, ihr angefochtnen Seelen wimpernschlagkurze Einwürfe des Chores verlangt. Es sind diese „Wohin?“-Rufe, die zu den schwersten Chor-Aufgaben überhaupt gehören. Dass Haas sie an seine Solisten delegieren muss, bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf den theologischen Zusammenhang, insofern es ja Fragen sind, die die Gemeinde stellt.

Julia Sophie Hagenmüller – Foto © Ulrike Schumann

Apropos. Den ruhenden Pol, zugleich das stetig treibende Energiezentrum, hat die Aufführung in diesem Kantor Karlfried Haas. Am Ende darf man getrost bilanzieren: Der im 20. Jahr an Matthäi engagierte, mit zahlreichen, auch internationalen Engagements bedachte Kirchenmusiker, leitet eine Aufführung ohne Fehl und Tadel. Deren Ausgeglichenheit, in allen Parametern, ist es, die Respekt abnötigt. Was in erster Linie natürlich an Formationen hängt, die sich in Jahrzehnten haben entwickeln können, die als gewachsene Klangkörper die Fähigkeit ausgebildet haben, mit großer Selbstver­ständ­lichkeit auf Betriebstemperatur zu gehen und diese zu halten, selbst über eine Marathondistanz hinweg, wie sie ein BWV 245 abverlangt.

Große Ausgeglichenheit auch in der Solisten-Riege. Julia Sophie Hagenmüller leiht ihren schönen Sopran für Eingangs- und Schluss-Arie; die warme Altstimme von Franziska Orendi färbt die Es ist vollbracht-Arie mit erdiger Trauernacht-Stimmung; Rolf A. Scheider gibt einen fragilen, niemals auftrumpfenden Jesus; Dmitri Vargin erfreut mit lyrischem Bass und nicht zuletzt hervorgehoben sei das Stehvermögen, der zarte Glanz des Evangelisten Lothar Blum.

Schließlich: Mit dem Symphonieorchester an Matthäi hat eine Kirchengemeinde tatsächlich das Kunststück zu Wege gebracht, einen kompletten Orchesterapparat aus sich heraus zu bedienen. Wie die Kantorei, so haben auch die Matthäi-Symphoniker in 30 Jahren so viel Ensemble-Identität, Ensemble-Exzellenz ausgebildet, dass es sie in die Lage versetzt, Durchsichtigkeit im Zusammenspiel, berührende Prägnanz im Solistischem an den Tag zu legen beispielsweise, wenn Haas das Bass-Arioso Nr. 19 Betrachte mein Seel wie die folgende Erwäge-Tenor-Arie Nr. 10 von einem Streicher-Duo begleiten lässt. Dass uns die gesungenen Worte nun allerdings einigermaßen sprachlos zurücklassen – ein „blutgefärbter Rücken“ soll „Gottes Gnadenzeichen“ sein, im Betrachten von „Jesu Schmerzen“ sollen wir ein „ängstliches Vergnügen“ empfinden – all das gehört zu den Untiefen einer Passions-Vertonung, die uns die sadomasochisti­schen Anteile einer pietistisch-lutherischen Kreuztheologie servieren, als kämen sie soeben aus Predigers Mund.

Im Hintergrund Karlfried Haas – Foto © Ulrike Schumann

Wobei es nicht bleibt. Ja, es wäre noch das Geringste. Im Vorfeld der im nächsten Jahr zu begehenden 300-Jahr-Aufführung der Johannespassion wird ein Thema schlechterdings nicht auszuklammern sein. Es meldet sich, laut und vernehmlich, bereits in der Aufführung an Matthäi, sieht man sich doch seitens der Veranstalter genötigt, einen Aufsatz mit dezidierter Titelei ins Programmheft einzurücken: „Antisemitismus in Bachs Johannespassion?“ Nun, Verwunderung darüber scheint unangebracht. Es gibt, und zwar überreichlich, Anlass für eine solche Vermutung. Auch ein „eindrücklicher und anregender Konzertabend“ wie der in Matthäi lässt es uns spüren. Nur schwer zu ertragen die „den Jüden“ zugeschriebenen Vernichtungsobsessionen im zweiten Teil, wo wir Zuhörer uns als Prozess­beobachter in einem haarsträubenden Justizskandal wiederfinden. Da ist eine nur mehr als perfide zu kennzeichnende antijüdische Dramaturgie, die kraft der sogenannten „Juden-Chöre“ die Negativität an den römischen Prokurator delegiert. Die Frage wird sein, ob man sich angesichts dieses Befundes mit bloßen Strichen in BWV 245 wird behelfen können. Denn: Was tun, wenn die Substanz kontaminiert ist? Bereits im ersten Teil der Passion wird ja ein jüdisches Mordkomplott behauptet. In Nr. 6 darf der Evangelist verkünden: „Es war aber Kaiphas, der den Juden riet, es wäre gut, dass ein Mensch umbracht würde für das Volk.“ Fürs Schlimmste sind die Juden verantwortlich, womit wir, einstweilen, festhalten können: „Antisemitismus in Bachs Johannespassion?“ ist eine Tatsache. Das Fragezeichen können wir streichen.

Insgesamt und, insbesondere, was die Perspektive Johannespassion 1724-2024 angeht, darf man sich deswegen nur wünschen, dass die apologetische Tendenz von Programmheft-Artikeln einer ehrlichen Bestandsaufnahme Platz machen wird. Selektive Wahrnehmung hilft niemandem weiter. Inzwischen hat die Debatte ersichtlich Fahrt aufgenommen. Nichts, dass da mehr außen vor ist: die Evangelien nicht, die Kirche nicht, ihre Theologen nicht und, ja, Bach, der Komponist von zwei großen Passions-Oratorien auch nicht. Alle kamen sie darin überein, eine jüdische Religion zur Vorgeschichte des Christentums, das Festhalten an der Tora für Starrsinn, die „Jüden“ letztlich für vogelfrei zu erklären. Ohne dies keine Wannsee-Konferenz. Die Konsequenzen daraus einstweilen unabsehbar. In jedem Fall ein dornenreicher Weg. Eine andere Passion.

Georg Beck