O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Heimat gibt es nur eine

HEIMATLIEDER
(Diverse Komponisten)

Besuch am
26. März 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Tonhalle, Düsseldorf

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Noch immer haben viele Veranstalter nicht begriffen, dass das nicht stimmt. Oder wollen es nicht verstehen. Es gibt kein Theater, kein Konzert, keine Tanzaufführung, keine Veranstaltung, die das Publikum über eine Dauer von zwei Stunden hinaus erfreuen kann. Und wer partout nicht aus seiner Blase heraus will, sieht auch gar nicht erst, dass es im Publikum Menschen geben könnte, die am Montagmorgen früh zur Arbeit erscheinen müssen. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Der Veranstalter gibt die tatsächliche Dauer eines Abends im Vorfeld an. Dann bleibt das Publikum weg. Oder er verheimlicht sie, dann geht die Hälfte der Zuschauer in der Pause, und die Verbliebenen gehen verärgert nach Hause. Es gibt keine Studie, die das belegt. Aber die Tonhalle in Düsseldorf beweist einmal mehr, dass es sich genau so verhalten könnte.

Samira Memarzadeh, von Hause aus Harfenistin, ist bei der Tonhalle als Konzertpädagogin angestellt und hat eine gute Idee. Die wird unter dem Titel Heimatlieder realisiert. Bevor es dazu kommt, findet ein „Vorkonzert“ in der Rotunde statt. Seit Januar dieses Jahres haben sich nach Angaben der Tonhalle rund ein Dutzend „ambitionierter Hobbyinstrumenalisten“ regelmäßig getroffen, um unter der Leitung von Muzaffer Gürenç, Simon Tressin und Memarzadeh „in transkulturelle Welten einzutauchen und gemeinsam Musik aus allen Himmelsrichtungen zu erkunden“. Das Ergebnis wird nun in einer knappen halben Stunde präsentiert. Es geht flott voran, ist abwechslungsreich und bietet Überraschungen. So tritt Jörg Udo Lensing, künstlerischer Leiter des Theaters der Klänge, mit „dem deutschen Beitrag“ auf. Mit dem Flug der Kraniche präsentiert er ein Lied der DDR-Singebewegung, einer Jugendbewegung, die von der Regierung vereinnahmt wurde. Das hat schon eine gewisse Würze. Arabische, mazedonische und türkische Liebeslieder flattern durch die Luft. Erstaunlich, was die Musiker in der Kürze der Zeit auf die Beine gestellt haben. Die Stimmung ist gut. Eine halbe Stunde Pause, ehe es im großen Saal der Tonhalle mit den Heimatliedern weitergeht. Jetzt noch mal schön anderthalb Stündchen, dann wäre alles prima. Weit gefehlt.

Memarzadeh hat sich einen Abend Wagnerschen Ausmaßes ausgedacht, um das Thema Heimatlieder zu bearbeiten, zumindest, was den Zeitbedarf angeht. Die Bühne ist in zwei Bereiche aufgeteilt. Linkerhand sind ein Konzertflügel und übrige Instrumente aufgebaut, rechterhand ist eine Sitzgruppe eingerichtet. Tuba Tunçak ist als Moderatorin eingeladen und bemüht sich um gute Laune, die es eigentlich gar nicht herzustellen braucht. Sie stellt Fragen an die Musiker – und später an das Publikum – die auf Unverständnis stoßen. Wie riecht die Heimat? Wie schmeckt die Heimat? Ja, das sind in anderen Zusammenhängen richtig gute Fragen. Aber das Thema des Abends sind eigentlich Heimatlieder.

Die Gruppe Wagaku*Miyabi eröffnet den Abend. Wagaku ist die traditionelle japanische Musik. Yuko Kojima an der japanischen Bambusflöte, Tomoko Schmidt mit der japanischen Zither und Takenosuke Hirohara, der eine dreisaitige, elektrisch verstärkte Langhalslaute spielt, präsentieren eine Mischung aus zeitgenössischen und traditionellen Stücken, die abgesehen vielleicht von der Erntedank-Musik wenig Bezug zur Heimat haben. Aber die Musik gefällt. Insbesondere das von Hirohara selbst komponierte Game kommt beim Publikum sehr gut an.

Eine Symbolfigur hat sich das nächste Ensemble für seinen Namen ausgewählt. Der Kranich steht als Verkünder „des Frühlings, der Liebe und der Lebensfreude“, aber auch als Mahner „gegen Krieg, Entfremdung und Entzweiung“. Auf Armenisch heißt der Vogel Krunk, und so hat sich auch das Ensemble rund um die Pianistin und Komponistin Anna Seropian genannt. Die Heimatlieder, die die Musiker präsentieren, stammen aus Armenien und Georgien. Seropian hat eigene Arrangements für das Ensemble geschrieben, die Simon Tressin am Schlagzeug, Hovhannes Margaryan an orientalischen Blasinstrumenten wie Schwi, Zurna und Duduk, Cellistin und Sängerin Sonja Asselhofen und Seropian selbst am Klavier und als Sängerin darbieten. Nach dem georgischen Tanz Khorumi und einem armenischen Morgengebet ist Seropians eigene Komposition Felsentränen aus der Armenischen Suite in Klangbildern zu hören. Eine leichte Brise aus den Bergen erklingt mit dem armenischen Volkslied Hov Aregh, ehe mit Cuncti simus concanentes aus dem Libre Vermell de Montserrat ein wunderbares Finale gelingt.

Anna Seropian und Sonja Asselhofen – Foto © Susanne Diesner

So vergehen bis zur Pause für die einen knapp anderthalb Stunden, für diejenigen, die bereits zur Musikwerkstatt erschienen sind, sind bereits fast zweieinhalb Stunden um. Für etwa die Hälfte des Publikums der Zeitpunkt, die Veranstaltung zu verlassen. Und das liegt sicher nicht an der Attraktivität des noch bevorstehenden Programms. Auch in der zweiten Hälfte weiß Moderatorin Tunçak nicht zwischen Heimat und Heimatliedern zu unterscheiden. Was aber immerhin zu zwei schönen Zitaten führt. „Alles, was Glück und Geborgenheit bietet, ist Heimat“, beschreibt Schlagzeuger Selman Sezek, der in zwei Ländern aufgewachsen ist, sein Heimatgefühl. Er gehört zu den „Kofferkindern“, das waren die Kinder, die die ersten türkischen Gastarbeiter in Deutschland bei den Familien zurückließen, weil sie glaubten, nach kurzer Zeit wieder in ihr Geburtsland zurückzukehren. Anders als viele seiner Zeitgenossen, die heute noch mit dieser merkwürdigen Situation hadern, steht für Sezek die schöne Kindheit bei den Großeltern als herzerwärmende Erinnerung im Vordergrund. Für Baglama-Spieler und Sänger Muzaffer Gürenç ist die Heimat ein kosmopolitischer Ort. „Wir haben nur eine Heimat. Das ist die Erde“, sagt er und erntet großen Applaus. Ja, es gäbe vieles zu sagen zum Thema Heimat, aber eben nicht an diesem Abend.

Gürenç und Sezek treten als Duo auf. Sie beginnen mit einem Liebeslied der anderen Art von Emre Saltik. Bekleme yar ben gelemem heißt auf Deutsch: Geliebte, warte nicht auf mich, ich komme nicht. Und sorgt für den Kloß im Hals, als Gürenç es den Erdbeben-Opfern in der Türkei und Syrien widmet. Die nächsten beiden Lieder stammen aus der Feder von Gürenç. Das Protest- und Friedenslied Kerem gibi heißt übersetzt „Wenn wir nicht brennen, wie soll dann das Licht kommen“, Köroğlu erzählt von einem anatolischen Robin Hood, der für Freiheit und Gerechtigkeit kämpft. Mit zwei Volksliedern – steht das Wort womöglich synonym für Heimatlieder? – beschließen die beiden ihren Auftritt. Mercan mercana kurba bedeutet „Ich gebe mich meiner geliebten Perle hin“ und bezieht sich selbstverständlich auf eine Frau. Und Teke ist der Tanz der Ziegenböcke, mit dem Sezek in das Geheimnis des 9/16-Taktes einführt. Von nun an wird der Abend zu einer Frage der Kondition. Und man möchte die Moderationen, die zudem zunehmend aus dem Ruder laufen, eigentlich nicht mehr hören, sondern nur noch schnell zu Ende kommen.

Bassam Mussad und Bert Flas – Foto © Susanne Diesner

Bei der Anmoderation der JazzyDüsy wird es so wirr, dass man wirklich nicht mehr nachvollziehen kann, wann nun welcher Titel in der Abfolge steht. Der etwas merkwürdige Name des Ensembles soll zeigen, dass hier Jazz-interessierte Musiker der Düsseldorfer Symphoniker sich zu einer Kombo zusammengeschlossen haben. Heute Abend treten Ege Banaz am Saxofon, Bassam Mussad an der Trompete, Wlodzimierz Gula am Kontrabass, sein Sohn Julian als Pianist und Bert Flas am Schlagzeug auf. Ein Deutscher, fünf Düsseldorfer. Herrlich. Und nun gibt es auch die Abwechslung, die im übrigen Abend ein wenig zu kurz kommt. Mit Georgia on My Mind von Hoagy Carmichael gibt es einen Klassiker aus Nordamerika. Von Fazh Teoman Yakupoğlu stammt Paramparça. Krzystof Komeda schrieb Sleep Safe and Warm, das Wiegenlied, das als Filmmusik zum Horrorfilm Rosemary’s Baby Weltruhm erlangte. Sehr interessant ist die Interpretation von Scarpias Te Deum aus Giacomo Rossinis Oper Tosca. Für den Abschluss mit Ralf Arnies Tulpen aus Amsterdam hat sich Memarzadeh noch etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Und zu jedem anderen Zeitpunkt wäre das auch noch der Knüller gewesen. Alle Interpreten des Abends müssen noch einmal auf die Bühne, um anschließend mit einem Arm voller Tulpen ins Publikum auszuschwärmen und die Blumen zu verteilen. Der letzte Applaus fällt dünn aus, ist aber nicht so gemeint. Die Leute sind nach drei respektive vier Stunden müde und wollen nach Hause.

Was bleibt, ist ein großes Kompliment an Samira Memarzadeh. Das Thema ist großartig gewählt, daraus hätte man noch vieles machen können. Nebenbei: Auch ein „Heimatabend“ bietet sicher viele interessante Möglichkeiten und soll hier durchaus als Anregung gedacht sein. Aber jetzt geht es eben um Heimatlieder. Und da sind unglaublich viele Aspekte dank einer wenig durchdachten Moderation noch nicht behandelt. Die Ankündigung, es handele sich hier um einen ersten Abend zum Thema, wird also hoffentlich umgesetzt. Denn diese Aufführung hat gezeigt, dass man mit einem solchen Thema auch ganz unverkrampft umgehen kann, dabei en passant die kulturelle Vielfalt als Chance aufzeigt. Solche Abende, regelmäßig durchgeführt und auf ein vernünftiges Zeitmaß zurechtgestutzt, bewirken in der Stadtgesellschaft sicher hundert Mal mehr als irgendwelche Preisverleihungen.

Michael S. Zerban