O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Daniela Ciccolini

Aktuelle Aufführungen

Verzauberte Tiefe

H-MOLL-MESSE
(Johann Sebastian Bach)

Besuch am
23. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Johanneskirche, Düsseldorf

Bachs h-Moll-Messe ist in jeder Hinsicht eine weite Reise. Die bewegende Aufführung der Düsseldorfer Johanneskantorei unter Wolfgang Abendroth ist es nicht weniger. Als der 120-Minuten-Parcours in der strahlenden D-Dur-Positivität des Dona nobis pacem, herrlich mit Pauken und Trompeten, ans Ziel kommt und der Jubel in der vollbesetzten Johanneskirche keine Grenzen kennt, erreicht eine einjährige Probenphase mit verschobenen Aufführungsterminen ebenfalls ihr glückliches Finale. Verdienst eines Johanneskirchen-Kantors, der es schafft, seinen Chor motiviert zu halten. Mit Stehvermögen, mit Überzeugungskraft, mit Liebe zur Musik. Stete Energiezufuhr und ein Funke, der überspringt, um sich in einem Aufführungswunder zu entladen.

Ein Wort, das an dieser Stelle keineswegs zu hoch gegriffen scheint. Wer mitbekommen hat, wie die Choristen, zumal in den Endproben, an die Grenzen ihrer stimmlichen Belastungs­fähigkeit gegangen sind, kann nur staunen, wie der Chor der Gefahr, sich festzusingen, begegnet. Eine Untiefe, die umsegelt wird, indem die Kantorei das federnde, das schwebend-weiche Dirigieren, das Abendroth fast über die gesamte Strecke beibehält, in sich aufnimmt. Nichts sich verfestigen lassen, jede Anstrengung unangestrengt angehen, Kräfte einteilen. Ein Grundsatz, den der künstlerische Leiter am Pult vormacht, vorlebt, so seinen Choristen dazu verhilft, die gefühlt unendliche Reise dieses Monuments der orchestralen Vokalkomposition zu meistern – und zwar mit Bravour. Ein Laienchor wächst über sich hinaus, betritt das Kraftfeld künstlerischer Professionalität. Man kann nur gratulieren.

Eine inspirierte Aufführung wie die der Johanneskantorei Düsseldorf vermittelt indes noch etwas anderes. Der auskomponierte Abwechslungsreichtum einer Bachschen h-Moll-Messe braucht unbedingt ausführende Solisten mit Sinn für die Anmut der kammermusikalischen Inseln, die zwischen den orchestral abgestützten Chorblöcken hervorleuchten. Genau das macht dann den Unterschied. Und so wird das Düsseldorfer Aufführungswunder perfekt. Was unmittelbar überführt zu den vier exzellenten Sängern dieser Aufführung, zu Sophie Klußmann und Elvira Bill, zu Patricio Arroyo-Lesuisse und Tomas Kildišius einerseits, aber auch zu den vier Instrumentalsolisten andererseits, die nur allzu oft unerwähnt bleiben, obwohl sie den Zauber dieser Arien-Inseln ja entscheidend mitgestalten.

Wolfgang Abendroth – Foto © Dirk Fried Karnath

Etwa Önder Baloglu, der Violinist und Gründer von Les Essences, einem Orchester, das der Düsseldorfer h-Moll-Messe insgesamt ihre transparente Farbigkeit verleiht. Im Laudamus te korrespondiert Baloglus feinsilbriges Geigenspiel genial mit dem schlanken Sopran von Sophie Klußmann. Beide mit spritzigen Trillern auf den Sechzehntel-Ketten. Das belebende Prinzip von Schaumwein. Oder gleich zu Anfang, wenn nach der dunklen h-Moll-Ekstatik des ersten Kyrie eleison die Stimmung wechselt, wenn, bei Bach singulär, zwei Frauenstimmen im Christe eleison zusammentreten. In diesem Fall als wunderbar harmonieren­des Duo Klußmann und Bill; ganz die streicherbegleitete Innigkeit. Im Et in unum, im zweiten Teil, greifen sie ihre Charmeoffensive noch einmal auf, dann begleitet von Blanca Gleisner, Solo-Oboistin im Sinfonieorchester Aachen.

In den Glanz, den namentlich die beiden Frauenstimmen in die Aufführung tragen, fügt sich am nächsten der fein timbrierte Tenor von Patricio Arroyo-Lesuisse, sei es im Domine Deus mit Sophie Klußmann oder allein im Benedictus. In beiden Fällen sekundieren die zart-schwebenden Flötentöne, die Günter Vallery, langjähriger Soloflötist im Beethoven-Orchester Bonn, seinem Instrument abzugewinnen versteht. Und mit Bass-Bariton Kildišius versteht es schließlich ein ganz junger, noch im Masterstudium stehender Sänger, sich wie selbstverständlich zu integrieren, das hohe Niveau zu halten. In Et in spiritum sanctum zeichnet Kildišius seine lyrischen Linien, ohne das Text-Syllabische zu verunklaren. Im Quoniam tu solus sanctus kommt dank kerniger Cornu-da-caccia-Klänge frischer Wind auf, geblasen von Mahir Kalmik, Horn-Professor an der Robert-Schumann-Hochschule. Das Prinzip Abwechslung noch einmal ganz anders.

Welche Intimität und Innigkeit ausgerechnet eine h-Moll-Messe ausstrahlen kann, das lässt sich, wie im Brennglas, schlussendlich den beiden Solo-Arien der Altistin Bill ablauschen. Zwei faszinierende Auftritte, die beglaubigen, was an ihrer Art, Gesangspartien anzulegen, gerühmt wird: Ruhe und Natürlichkeit. Im Qui sedes zieht sie, unterstützt von Oboistin Gleisner, aus unscheinbaren Halbton-Reibungen crescendierende Linien und, kurz vorm lösend-erlösenden Chorfinale des Dona nobis pacem, führt die so angenehm-unspektakulär auftretende Sängerin ein dankbares Publikum in die verzauberte Tiefe eines streicherbegleiteten Agnus Dei. Alles wird gut, heißt das.

Georg Beck