Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
GESCHÖPFE
(Ben J. Riepe)
Besuch am
29. Oktober 2020
(Uraufführung)
Hier wird auf hohem Niveau geklagt. Schließlich gilt Ben J. Riepe als der bedeutendste Choreograf der so genannten Freien Szene in Düsseldorf. Beachtet sei hier die männliche Form. Und so ist die Vorfreude auf die Uraufführung von Geschöpfe groß. Doch dann fällt der Blick auf den Abendzettel. „Welche Möglichkeiten eines neuen Miteinanders lassen sich im Liminalraum dieser Dichotomien denken?“ steht da allen Ernstes, eins zu eins von der Website des Choreografen übernommen, bloß nicht noch mal vom Tanzhaus NRW in Düsseldorf, wo die Uraufführung stattfindet, überdacht. Nö, damit bin ich nicht gemeint, wird sich da die Mehrheit der Düsseldorfer denken. Ich wollte mich mal für zeitgenössischen Tanz offen zeigen, aber das ist nichts für mich. Dass es sich dabei um den Grenzraum zweier Räume ohne Schnittmenge handelt, ist uninteressant angesichts der Tatsache, dass weder Riepes Team noch das Tanzhaus glauben, sich an irgendwelche Rechtschreibregeln der deutschen Sprache bei ihren Texten halten zu müssen. Da ist der Durchschnittsbesucher offenbar auf irgendeiner Elite-Veranstaltung gelandet, die nicht ihn meint. Aber wenn er denn mal da ist …
Auch an dieser Spielstätte überzeugt einmal mehr das Sicherheitskonzept. Trotz zahlreicher neuer Änderungen hat das Tanzhaus hier Routine entwickelt. Es wartet keiner mehr vor der Tür, der Besucher wird sogleich zum Platz geführt, die Masken bleiben auf, Desinfektionsmittel am Eingang, selbst das Ausfüllen von Anwesenheitslisten entfällt, weil das alles inzwischen digital gelöst ist. Die Abstände in den Reihen haben sich gelichtet. Hier kann man sich ohne Zögern auch in unsicheren Zeiten wohl fühlen. Dramaturgin Mijke Harmsen informiert das Publikum relativ zeitnah vor der Aufführung über die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen, wünscht eine schöne Premiere und so kann es mit wenigen Minuten Verspätung losgehen. Funktioniert. Allerdings an diesem Abend zum letzten Mal, weil es in der kommenden Woche in den nächsten Shutdown geht. Aber daran denkt jetzt erst mal niemand mehr.
Foto © Ursula Kaufmann
Riepe hat gemeinsam mit Philipp Zanders eine Guckkastenbühne im Großen Saal entwickelt, die die Decke nach unten holt und die Seitenbühnen versteckt. Sehr wirkungsvoll. Weil Riepe den „Bilderrahmen-Effekt“ sicher will. Platz finden da acht Pflanzen und die „Skulpturen“ – also Teile von Schaufensterpuppen – von Moran Sanderovich, die später um automatisch bewegliche Prothesen der RaumZeitPiraten ergänzt werden. Das Licht beschränkt sich auf weiß, das aber in allen Schattierungen und von allen Richtungen aus. Dass im letzten Drittel das auf Halbdunkel reduzierte Licht steckenbleibt, als sei den beiden da nichts mehr eingefallen, ist dramaturgisch eher bedauernswert, aber nun nicht mehr zu ändern. Da ist die Lust sowieso dahin, weil das Stück an diesem Abend satte zwei Stunden braucht und damit schon mal zehn Minuten überzieht, ohne dass man danach eine Sehnsucht verspürte. Es soll eine Reise von der „Schöpfungsgeschichte über den Frankenstein-Mythos bis zu Cyborg-Stories, von altgriechischen Mythologien bis zu Essays über das menschengemachte Zeitalter des Anthropozän“ werden. Und das darf man wohl als gelungen betrachten, auch wenn längst nicht alles eindeutig wird. Aber das muss es ja auch nicht.
Margit Koch hat interessante, androgyne Kostüme entwickelt. Allen Auftretenden gemein ist irgendwann der schwarze Rock mit schwarzen Kniestrümpfen zur weißen Bluse. Von dieser „Uniform“ abweichend, gibt es abstrus Buntes. Aber auf die Kleidung kommt es ohnehin nicht so an. Riepe drängt angesichts des Themas zum Nackten. Bevor es dazu kommt, muss man noch allerhand über sich ergehen lassen. Wie beispielsweise den Conférencier, der das Kommende ankündigt. Seine Übersicht über den Abend soll lustig sein. Nun ja. Künstlerisch anspruchsvoller scheint da der Prozess des Atmens, der sich in verschiedenen Variationen durch den Abend zieht. Und damit setzt ein fantasievoller Abend ein, der die Erwartungen an den Choreografen voll erfüllt. Da gibt es den Hexentanz, Feuerspiele und, um den Begriff der „intermedialen Oper“ zu erfüllen, auch die Opernpersiflage mit dem Duett Ich war gestern im Bio-Laden. Ob es tatsächlich sage und schreibe vier Männer-Stripteases braucht, mögen wohl eher Frauen beantworten. Dass der Vortrag des Conférenciers über „genderlos“ überflüssig und albern ist, steht jedenfalls fest. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie viele Ideen gerade im Bewegungsmaterial die Besucher über, sagen wir, 70 Minuten hinweg fesseln.
Dazu trägt auch die Musik von Gordon Kampe bei, der Klassik mit Jazz von der Festplatte abliefert, die er um Live-Musik von Shaghayegh Shahrabi an der Klarinette und Enrico Traubmann am Saxofon kongenial ergänzt.
Mit ein paar Hängern ist ein Abend entstanden, der das Publikum zu langanhaltendem Applaus veranlasst und trotz jetzt anstehender langer Pause sicher nicht so schnell in Vergessenheit gerät.
Michael S. Zerban