O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ingo Schäfer

Aktuelle Aufführungen

Grandioses Bühnenbild

GESCHLOSSENE SPIELE
(Demis Volpi)

Besuch am
28. Dezember 2021
(Premiere am 1. Oktober 2021)

 

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Opernhaus Düsseldorf

Der Argentinier Demis Volpi ist Ballettchef an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg. Das erweist sich gerade als Glücksfall, denn mit einer Uraufführung will er seinem Publikum einen französisch-argentinischen Dichter näherbringen, der in Deutschland so gut wie unbekannt ist. Zu Unrecht. Julio Cortázar wurde 1914 als Sohn eines Handelsattachés an der argentinischen Botschaft in Brüssel geboren. Mit vier Jahren lernte Julio seine eigentliche Heimat kennen, die dann doch nicht seine wurde. Nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, erlebte der Junge seine Kindheit in einem kleinbürgerlichen Vorort von Buenos Aires. Trotz erbärmlicher finanzieller Verhältnisse kann der Büchernarr an der Universität von Buenos Aires studieren, wird später Professor für französische Literatur an der Universität Cuyo in Mendoza. 1951 emigriert er nach Paris, wo er bis zu seinem Tod seinen Lebensmittelpunkt findet. Heute gilt Cortázar neben Jorge Luis Borges als einer der bedeutendsten Autoren der fantastischen Literatur.

Volpi hat für sein neuestes Werk Geschlossene Spiele das Schauspiel Nada a Pehuajó von Cortázar als Grundlage gewählt. Übersetzt heißt der Titel „Nichts mehr nach Pehuajó“, wobei Pehuajó eine Kleinstadt in der Provinzregion Buenos Aires ist. Mit dieser Bekanntgabe begibt sich das Publikum, von dem seit der Uraufführung nicht mehr viel geblieben ist, direkt in das wunderbare Bühnenbild von Heike Scheele. Hier fehlt nur noch der Bandoneon-Spieler, um die Atmosphäre eines Restaurants in Buenos Aires in den 1960-er Jahren perfekt zu machen. Ein wenig heruntergekommen wirkt das Ganze. Links steht ein Klavier, weiter nach hinten ist die Rezeption mit der Postannahme angeordnet. Im Hintergrund der Eingang, auf der linken Seite oben die Luke eines Speisenaufzugs, davor der Ausgang zur Küche. In der Mitte sind Stühle und Tische in mildem Durcheinander angeordnet. Das Bühnenbild ist grandios. Bonnie Beecher vermag es mit ihrem Licht noch einmal ordentlich zu unterstreichen. Offensiv setzt sie neben einer ordentlichen Grundhelligkeit Spots, die die originellen Einfälle Volpis in den Fokus rücken. Einmal mehr tritt sie damit den Beweis an, dass Choreografen ihre Tänzer nicht im Halbdunkel absaufen lassen müssen, um Wirkung zu erzielen. Katharina Schlipf hat stark typisierende Kostüme mit Witz und Fantasie ausgewählt.

Norma Magalhães – Foto © Ingo Schäfer

In diesem Milieu erzählt Volpi vom Restaurantbetrieb mit seinen skurrilen Typen – und von Carlos Fleta, der zum Tode verurteilt wird. Davon erfährt der Zuschauer, wenn Sprecher Mario Pitz aus dem Off das Todesurteil im Nachrichtenstil verkündet und von den Ausschreitungen gegen die Ungerechtigkeit des Urteils berichtet. Unter den Gästen des Restaurants ist der Richter, der das Urteil gefällt hat. Und er trifft auf Fleta, der als Oberkellner hier arbeitet. Die Stärke des Abends liegt eindeutig in der Annäherung an den Surrealismus. Und Volpi abstrahiert weiter, wenn er das ganze Geschehen zu einem Schachspiel werden lässt. Geschlossene Spiele nennt man im Schach Spieleröffnungen, die möglichst lange defensiv bleiben. Die Linien werden auf dem Vormarsch möglichst lange geschlossen gehalten. Das hat häufig den Effekt, dass der Betrachter den Spielverlauf als langweilig empfindet und das Spiel zu einem überraschend plötzlichen Ende findet. Der Choreograf hält die Linien nicht ganz so geschlossen.

Orazio di Bella gibt den Mann in Weiß, der im Hintergrund Schach spielt und damit die Handlung auf der Bühne beeinflusst. Er bleibt nach ein paar artistischen Einlagen eher unauffällig, wirkt als graue Eminenz und gibt dem Abend damit außerordentlich subtile Würze. Insgesamt ist an diesem Abend kein Mensch auf der Bühne überfordert, was die tänzerischen Anforderungen angeht. Und wer hergekommen ist, um die – überhöhte – Kunst des klassischen Balletts zu sehen, wird enttäuscht sein. Alle anderen werden von Niklas Jendrics als Richter begeistert sein, der mit zackigen Richtungsangaben die Ordnung vorgibt, obwohl er doch nur gekommen ist, um seine Möhren in der Waagschale der Justiz gegen Gewichte zu rechnen. Für viel hintersinnigen Humor sorgen Tommaso Calcia und Edvin Somai als Kellner. Einen besonderen Auftritt hat an diesem Abend Simone Messmer, die sich allmählich von einer „amerikanischen Touristin“, blondierte, gewellte Haare, Jeans-Kostüm und pinkfarbene Stiefel, die zum pinkfarbenen Cowboy-Hut der Proben passten, der nun einem weißen Hut gewichen ist, in eine Primaballerina mit Tutu und Spitzenschuhen wandelt. Ihr großes Solo bleibt ein wenig hinter den Erwartungen zurück, was allerdings weniger an ihren persönlichen tänzerischen Fähigkeiten liegt. Wunderbar sind auch die Nebenfiguren, die an Kühle kaum zu übertreffen sind. Michael Foster als Angestellter oder die Dame in Grün, die von Rubén Cabaleiro Campo dargestellt wird, um nur zwei Beispiele zu nennen. Futaba Ishizaki und Kauan Soares Araujo müssen als Gina und Franco ihren Tribut an die Neuzeit leisten, wenn sie mit Turnschuhen so etwas wie Hiphop demonstrieren. Besondere Erwähnung verdient Miquel Martinez Pedro, der mit einem stilisierten Hühnchen, das über seinen Kopf gestülpt ist, doch einiges über sich ergehen lassen muss und das wirklich glänzend absolviert.

Orazio di Bella – Foto © Ingo Schäfer

Alexander Ivanov obliegt der musikalische Auftakt des Abends. Und selten hat man jemanden so schlecht Amazing Grace am Klavier spielen hören. Es dauert tatsächlich rund eine Minute, ehe man erkennt, was er da spielt. Großartig gemacht. Vielleicht hätte er den Abend auch komplett bestreiten können und damit noch mehr Konzentration erreicht. Aber darauf verlässt sich Volpi nicht und lässt unter anderem Musiken von Elliott Carter, Ennio Morricone und Luciano Berio über ein Transistorradio oder direkt von der Festplatte einspielen. Die Pauken bedient Kevin Anderwaldt. Ein buntes Gemisch, das dem Restaurantbetrieb dann auch gerecht wird.

Das Publikum applaudiert nach einer Stunde etwas müde. Das ist nicht gerecht, auch wenn einige Zuschauer enttäuscht darüber sein mögen, dass selbst in der Deutschen Oper am Rhein der Schlendrian einzuziehen scheint. Eine knapp zehnminütige Verspätung des Vorstellungsbeginns kennt man an diesem Ort noch nicht. Und vom Kauf des Programmhefts ist dringend abzuraten. Es ist schlicht eine sprachliche Zumutung, der sich der gebildete Mensch nicht unterziehen muss.

Trotzdem ist diese Arbeit von Volpi ein Abend, an dem man mit einem Schmunzeln auf den Lippen und ein wenig Nachdenklichkeit nach Hause geht. So soll ein gelungener Theaterabend sein.

Michael S. Zerban