O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Verloren zwischen Heimat und Fremde

DIE FRAU VOM MEER
(Marlin de Haan & Team)

Besuch am
26. September 2020
(Premiere am 24. September 2020)

 

Klmmr – Aktionsbüro für vorläufige Identitäten, Maurice-Ravel-Park, Düsseldorf

Das Quartier Central in Düsseldorf scheint auf Künstler eine besondere Anziehungskraft auszuüben. Dabei ist das „Neubau“-Gebiet, das sich seit zehn Jahren neben der Toulouser Allee zwischen Wehrhahn und Zoobrücke erstreckt, alles andere als einladend. Eine Hochhaus-Front in edler Ausführung, die ihr bereits den Spitznamen eines Reichen-Ghettos eingetragen hat. Selten hat man einen abweisenderen Straßenzug gesehen. Wo einzelne Durchgänge erkennbar sind, versperren solide Stahlgitter den Weg. Möglicherweise reizt gerade diese ausgrenzende Architektur im Hochpreis-Segment Künstler, sich mit neueren Stadtentwicklungen auseinanderzusetzen.

Das Paradoxon: Sämtliche Künstler-Aktivitäten spielen sich vor der Häuserfront ab. Als ein Theaterkollektiv im Rahmen des Asphalt-Festivals dort einen Rundgang veranstaltete, ging es immerhin noch in einen frei zugänglichen Zwischenraum etwa drei Meter weit hinein. Ein Graffiti-Festival durfte sich an den Wänden vor dem Viertel austoben. Und auch Marlin de Haan zeigt ihr neuestes Projekt nicht etwa innerhalb der Mauern des Viertels, sondern im Maurice-Ravel-Park, eine der hässlichsten Gartenanlagen Düsseldorfs, die terrassenförmig auf einem Schutzwall zwischen Marc-Chagall-Straße und Toulouser Allee angelegt ist, also vor der Häuserfront. Das muss ein seltsames Viertel sein, an dessen Außenmauern die Kunst abperlt.

„Treffpunkt“ für die dritte Vorstellung ist auch wie bei der Uraufführung zwei Tage zuvor unter der Zoo-Brücke ein Tisch, an dem die Besucher sich in die Kontrollliste einzutragen haben und ihre Eintrittskarten entgegennehmen. Dort erleben die etwa 15 Gäste des Abends auch den Einstieg in das Stück als Hörspiel, in dem eine Gruppe offenbar auf dem Balkon eines Penthouse in dem Viertel steht und die Aussicht preist. Zuvor werden die Zuschauer darauf aufmerksam gemacht, dass keine Maskenpflicht während der Aufführung bestehe, sie aber um das Tragen einer Maske gebeten werden. In Deutschland geht das Maß der Dinge verloren, nicht nur in der Architektur. Strammen Schrittes geht es den Hügel hinauf bis etwa zur Mitte des Parks. Unterwegs geben die Musiker Carmen Brown, Raphael Landauer und Rolf Springer als Band eine Kostprobe ihres Könnens. Sie werden auch später noch zwei Mal etwas willkürlich mit einer Musik, die flott klingt, aber wenig Bezug zur „Handlung“ zu haben scheint, auftreten.

Seit gestern hat sich das Wetter rasch und deutlich verschlechtert. Die Temperaturen sind auf etwa 15 °Celsius gesunken und tagsüber gab es Regenschauer. So lädt der Wiesengrund nicht mehr ein, sich darauf niederzulassen. Aber für die Besucher stehen unter Müllplanen Schemel bereit, die sie sich holen dürfen, wenn es mit dem Stehen zu anstrengend wird. Der Spielort ist etwa so groß wie ein halbes Fußballfeld, ein Baldachin, unter dem die Technik untergebracht ist, ist am linken Spielfeldrand untergebracht. Etwa in der Mitte steht der „Nachbau“ eines der Hochhäuser des Viertels. Hier dürfen die Besucher nacheinander eintreten, um eine skurrile Sammlung von Interieur zu bestaunen, wenn der Monitor über dem Eingang grün zeigt. So wichtig scheint also der Ablauf nicht zu sein, wenn man sich mal einfach so ausklinken kann. Drei Lautsprecher, sorgfältig in Plastikfolie verpackt, geben die Stimmen der Darsteller wieder, die mit Microports ausgestattet sind, aber auch die Medienkomposition von Fabian Schulz und Florian Zeeh. Letztere mag die Stimmung leidlich unterstützen, gibt aber außer Rauschen und Fahrverbindungsansagen der Deutschen Bahn wenig her.

Marlin de Haan und Team haben einen riesigen Aufwand für ihre neue Produktion Die Frau vom Meer betrieben. Sie haben in der Stadt Plakatwände angemietet, um darauf Fragen zu stellen und mit der Angabe der Website klmmer.org zu kombinieren. Wer auf diese Website ging, hatte die Möglichkeit, der Produktion bei Facebook zu folgen oder assoziative Fotos auf Instagram zu betrachten. Außerdem konnten digitale Postkarten verschickt werden. Zusätzlich wurden zahlreiche Interviews geführt mit Fragen wie: Wie lebt es sich mit und in der Fremde zusammen? Sind wir freiwillig hier? Wer will ich sein, und wer kann ich sein?

Eine derart aufwändige Vorbereitung sollte ein adäquates Ergebnis hervorrufen. Daran darf allerdings gezweifelt werden. Ein Stück auf der Grundlage von Ibsens Fruen van Havet, das 1888 in München geschrieben und am 12. Februar 1889 am Hoftheater Weimar und am Christiana-Theater uraufgeführt wurde, könnte das Originalwerk wiedergeben oder auf einzelne Szenen verweisen. De Haan vermischt einzelne Handlungsstränge des Stücks mit den Ergebnissen der Interviews. Eine unglückliche Lösung, weil die Banalität der Interview-Ergebnisse nicht an die Poesie Ibsens heranreicht. Die Texte von Charlotte von Bausznern fesseln da nicht wirklich, kratzen zu oft nur an der Oberfläche. Und das, obwohl Hicran Demir, Ismail Deniz und Saskia Rudat hier keine Unterschiede in der Darstellung erkennen lassen. Hörbar ist es trotzdem.

Eigentlich ist de Haan für ihre Raumaufteilung gerühmt. Auf dem Territorium des Parks allerdings läuft das alles auseinander. Da werden einzelne Szenen über weite Strecken verteilt, zwischenzeitlich verschwinden die Darsteller ganz aus dem Blickwinkel der Zuschauer. Eine notwendige Szenenabfolge wird nicht erkennbar. Die Beliebigkeit gewinnt überhand.

Zwischendurch entstehen immer wieder Bilder, die Faszination hervorrufen, werden aber sogleich wieder durch Generalpausen in ihrer Wirkung zerstört. Am Ende überwiegt der Ärger über die Langsamkeit und die misslungene Räumlichkeit, so dass einem fast der wundervoll poetische Schluss auf den Dächern der Spielplatzhäuschen entgeht. Dabei ist es eines der stärksten Bilder des Abends. Hier wäre mehr möglich gewesen.

Das Publikum applaudiert pflichtgemäß den Darstellern, die eine mehr als ordentliche Leistung abgeliefert haben.

Michael S. Zerban