O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Wenn die Ideologie gewinnt

FLÜGEL, SCHWEBEND
(Bojan Vuletić)

Besuch am
2. Juni 2021
(Uraufführung)

 

Tonhalle Düsseldorf

In einer Verzweiflungstat schoss der 17-jährige Herschel Feibel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris auf den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath, nachdem er erfahren hatte, dass seine Eltern aus Hannover zwangsweise nach Polen deportiert worden waren. Ob Rath tatsächlich an den Folgen der Schüsse oder aufgrund weiterer Komplikationen durch bestehende Grundkrankheiten starb, wird wohl ungeklärt bleiben. Spielte auch keine Rolle, denn am 8. November 1938, einen Tag nach dem Attentat, stand für Adolf Hitler fest, dass es einen neuen „Märtyrer“ gab. Und so wurde der Diplomat noch Stunden vor seinem Tod eilig zum Gesandtschaftsrat I. Klasse ernannt. Am 9. November verstarb Rath um 16.30 Uhr.

Was dann passierte, ging in die Geschichtsbücher als Reichspogromnacht ein. Unter einem Pogrom versteht man die Ausschreitung gegen eine nationale, religiöse oder ethnische Minderheit. Tatsächlich, Treppenwitz der Geschichte, ging die bundesweite Gewaltaktion gegen die jüdische Bevölkerung nicht von der Regierung aus. Die wurde vom „Volkszorn“ vollkommen überrumpelt. Den allerdings hatten sie zuvor mit Hilfe der Medien kräftig geschürt. „Dieses Verbrechen kann für die Juden in Deutschland, ganz gleich welcher Staatsangehörigkeit, nicht ohne Folgen bleiben. Seit Jahr und Tag sieht das internationale Judentum seine Hauptaufgabe darin, Deutschland zu beleidigen und zu verleumden. Jedes Mittel der Lüge, der Hetze und der Tatsachenverdrehung ist diesen jüdischen Dunkelmännern recht. Es kommt ihnen nicht darauf an, die Völker in einen blutigen Krieg hineinzuhetzen, wenn sie nur das ihnen vorschwebende Ziel der Vernichtung des nationalsozialistischen Deutschlands erreichen zu können glauben“, hetzte am 8. November die Rheinische Landeszeitung.

Am Abend des 9. November noch waren Kindergruppen durch Düsseldorf gezogen und hatten Sankt-Martins-Lieder gesungen. Ihnen folgten die Schlägerbanden der SA und Mitläufer aus der Bevölkerung noch in der Nacht nach. Sie setzten Synagogen in Brand, zerstörten jüdische Geschäfte und drangen in jüdische Wohnungen ein. Die Polizei hatte klaren Befehl. Gewaltaktionen gegen Juden waren zu dulden, Plünderungen zu verhindern. Schließlich sollte vorhandenes Vermögen nicht in private Taschen, sondern in den klammen Staatshaushalt fließen. So ganz gelang das nicht, denn Vermögen muss man auch erst einmal erkennen. Und das können marodierende Horden in den seltensten Fällen. Im „Dritten Reich“, das Adolf Hitler ausgerufen hatte, begann in dieser Nacht eine andere Form der Kultur. Geigen, Akkordeons und Klaviere wurden aus den Fenstern auf die Straßen geworfen. Wenn ich einen „Volksempfänger“ habe, also ein Rundfunkgerät, mit dem der Staat die Kultur steuert, brauche ich keine Instrumente mehr.

Neben dem unendlichen Leid der Gejagten und der sinnlosen Zerstörungswut war Komponist Bojan Vuletić besonders betroffen davon, dass Menschen Musikinstrumente vernichteten. Eine Violine, die aus einem Fenster fliegt und auf dem Kopfsteinpflaster der Inselstraße zerschmettert, zerbirst im Herzen tausendfach. Besonders beeindruckte ihn ein Augenzeugenbericht von Irene Delmont, geborene Herz. Sie musste erleben, wie ein Flügel aus dem Fenster im dritten Stock befördert werden sollte. Der Besitzer versuchte es zu verhindern, und so hing das Instrument gefühlt über eine Stunde im Fensterrahmen. Was für ein Alptraum! Die Tonhalle Düsseldorf erteilte den Kompositionsauftrag, und Vuletić schrieb Flügel, schwebend. Geliefert pünktlich zum 9. November 2020. Für ein Quartett. Nichts passierte. Und Vuletić wäre sicher verzweifelt, hätte er nicht bereits die ersten Proben mit vier Spitzenmusikern absolviert, die die Tonhalle zur Uraufführung eingeladen hatte.

Da wird auf viel heimisches Potenzial zurückgegriffen. Christoph Schneider hat wie Nicolai Pfeffer bei Ralph Manno in Köln die Fingerfertigkeit an der Klarinette erlernt. Der bedient kein Instrument, sondern verlängert seinen Körper. Heute ist er Erster Solo-Klarinettist der Deutschen Oper am Rhein Duisburg. Egor Grechishnikov war am Moskauer Konservatorium. Das ist lange her. Heute ist er im besten Sinne ein Tier an der Geige. Seit 2002 ist er Zweiter Konzertmeister der Düsseldorfer Symphoniker. Von ganz wild bis leidenschaftlich zärtlich. Auch Nikolaus Trieb kann nichts mehr erschüttern. Er liebt sein Cello von bunten Tapsern bis zu stumpfen Anschlägen. Als Erster Cello-Solist ist er seit 1992 bei den Düsseldorfer Symphonikern und unterrichtet seit 1997 seine eigene Cello-Klasse an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf in weiten Bogenschwüngen. Gewissermaßen als Konfekt zur Zierde des Abends ist auch Pianistin Alina Bercu zugegen. Sie hat längst alle Grenzen des klassischen Repertoires überwunden und begegnet der neuen Musik mit souveräner Geste.

Bojan Vuletić – Foto © Susanne Diesner

Endlich. Am heutigen Abend ist im Rahmen des Schumannfestes die Gelegenheit gefunden, die fast schon verloren geglaubte Uraufführung vor Publikum in der Tonhalle auf die Bühne zu bringen. Natürlich vor ausverkauftem Haus. Was bei 100 erlaubten Personen nicht die ganz große Kunst ist. Der kleine Wermutstropfen ist, dass nicht Intendant Michael Becker die Eröffnungsansprache hält, sondern seinen Chefdramaturgen Uwe Sommer-Sorgente vorschickt. Warum? Vuletić bekommt Gelegenheit, sein Werk anzukündigen. Warum er, der sich gerade noch mit den Auswirkungen ideologischer Indoktrination auseinandergesetzt hat, plötzlich Männer diskriminiert, erschließt sich nicht. Aber egal, wie viel er gerade von Komponistinnen redet. Schließlich interessiert, was er für die fantastischen Musiker vorbereitet hat. Wo kämen wir hin, wenn wir jedem Menschen jeden Tick nachtragen wollten?

Jedenfalls gelingt dem Komponisten, das Publikum mit seinem Werk über 70 Minuten zu fesseln. Es sammele die Musik, die auf den Instrumenten vor ihrer Zerstörung gespielt worden sei, erzählte er im Vorfeld, meint das aber eher im übertragenen Sinne. Auf Zitate verzichtet er. Und auch die Gewalt jener Nacht lässt er bewusst außen vor, verzichtet auf Märsche oder stampfende und tretende Stiefel. Die Assoziationen, die er mit seiner Musik auslöst, gehen dennoch in eine andere Richtung. Wenn Bercu am Klavier immer wieder bedrohliche Spannung aufbaut, auf dem Cello tastende Schritte erklingen, begibt sich der menschliche Geist in jene Nacht, in die Straßen, in denen die zersplitterten Instrumente liegen, fühlt sich fassungs- und hilflos. Sieht, was die Geige beschreit, die Klarinette beweint. Da sind die Ensemble-Einlagen, die sich zu Furiosi steigern, Gelegenheit, mit der eigenen Wut umzugehen. Vuletić schickt die Hörer auf eine Berg- und Talfahrt, lässt den Instrumenten ausreichend Platz für Soli, die eigene kleine Geschichten erzählen. Es wird ein beschwerlicher Gang mit irritierten Blicken in die Seitenstraßen. Nein, man kann die Brände nicht riechen, aber das Grauen, das das nächtliche Feuer auslöst, erahnen. All das baut Vuletić eher subtil auf, das Plakative ist nicht seins. Auch die Musiker scheinen hier nicht auf ihren Instrumenten zu spielen, in dem Sinne, dass sie sich auf Instrument und Notenblätter konzentrieren, sondern eher das Geschehen mitzuverfolgen, wie Beobachter und damit auf einer Stufe mit dem Publikum. Der Komponist urteilt nicht, beschreit nicht die Ungerechtigkeit, sondern lässt das Werk in Stille ausklingen, so dass man vor dem geistigen Auge noch die Menschen sieht, die im kommenden Tageslicht aus ihren Löchern kriechen, um in den Scherbenhaufen auf den Straßen zu suchen, ob sich noch Brauchbares finden ließe.

Nach langanhaltendem Beifall mit dürrem Klang, aber aller Herzlichkeit, zu der die Zuschauer nach dieser beeindruckenden Leistung im Stande sind, bekommt das Publikum noch Gelegenheit, Fragen zu stellen und Eindrücke zu äußern. Wie schön, dass die Uraufführung an diesem Abend für sich stehen darf. So wird auch der Genuss der kleinen Zugabe noch verstärkt. Nach dem Abnehmen der Maske am Ausgang das tiefe Durchatmen. Und das beglückende Gefühl des abendlichen Friedens.

Michael S. Zerban