O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Toscaninis Aufbegehren

FIDELIO 44
(Ludwig van Beethoven)

Besuch am
6. September 2020
(Einmalige Aufführung)

 

Tonhalle, Düsseldorf

Zur Perfidie des nationalsozialistischen Regimes gehörte es, bekannte Namen für die eigene Ideologie zu vereinnahmen. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist sicher Richard Wagner. Jemand, bei dem es nicht so gut funktioniert hat, ist Ludwig van Beethoven. Dessen Musik wurde auch in Kriegszeiten gleichermaßen von Freund und Feind gespielt. Ein besonderes Zeichen setzte Arturo Toscanini im Herbst 1944, als er zu Beginn der Spielzeit im Radiosender National Broadcasting Company ein Beethoven-Festival dirigierte und die Musik des deutschen Komponisten so dem amerikanischen Radiopublikum vorstellte. Am 10. und 17. September kam der erste und zweite Akt der Oper Fidelio jeweils an einem Sonntagnachmittag in deutscher Sprache zur Aufführung.

Den Regisseur Leonhard Koppelmann beeindruckte dieser Akt des Aufbegehrens gegen die politische Vereinnahmung so sehr, dass er daraus das Stück Fidelio 44 entwickelte. Die Idee ist, den zweiten Akt in Verbindung mit der Leonoren-Ouvertüre aufzuführen. Und weil am 6. Juni 1944 die Invasion der Alliierten in der Normandie begann, könnte man diesen „Befreiungsakt“ mit der Aufführung in Video-Bildern visualisieren. Zwei Sprecher ergänzen das Stück um eine weitere Form des Widerstands, indem sie aus den Rundfunkansprachen Thomas Manns aus Amerika an die deutsche Hörerschaft zitieren. Was auf dem Papier gut klingt, überzeugte die Tonhalle. Und so wird das Stück in voller, geplanter Größe, aber unter Corona-Auflagen aufgeführt.

Adam Fischer – Foto © Susanne Diesner

Mit Stand heute gibt es in Düsseldorf 90 Neuinfektionen auf rund 600.000 Einwohner. Die Politik ignoriert solche Zahlen und schürt lieber die Angst vor einer „zweiten Welle“. Mit katastrophalen Folgen für Kulturveranstaltungen. Man muss kein „Corona-Leugner“ sein, um ein solches Verhalten in Frage zu stellen. Intendant Michael Becker geht den Weg des geringsten Widerstands. Sein Ziel ist offenbar, Aufführungen in gewohnter oder fast gewohnter Größenordnung durchzuführen, um nahezu jeden Preis. Und so wird ein gewaltiger Aufwand betrieben, was Personal und Maßnahmen angeht, um ein paar hundert Besuchern eine Aufführung in „gewohnter“ Qualität zu bieten. Die Zuschauer sind namentlich auf den Sitzplätzen erfasst, werden zu bestimmten Uhrzeiten an vielen Zugängen eingelassen, bekommen Garderobenabschnitte zugewiesen und unterliegen auch am Platz der Maskenpflicht. Das jetzt schwarz behandschuhte Aufsichtspersonal, in der Tonhalle ohnehin für seine Genauigkeit bekannt, achtet mit Argusaugen auf die Einhaltung und zögert nicht, auf den richtigen Sitz der Masken hinzuweisen. Einigen Menschen scheint dieser Aufwand doch zu groß. So bleiben viele der verfügbaren Plätze an diesem Abend frei. Wichtiger, als auf Unannehmlichkeit zu verzichten, wäre allerdings gewesen, den Intendanten in seiner Strategie zu unterstützen.

Denn Becker erreicht so, dass er ein rund 40-köpfiges Orchester, zwei Sprecher, sieben Sänger und – einen 28-köpfigen Chor auftreten lassen kann. Allein, um den Chor auftreten zu lassen, werden die gesamten Ränge in Anspruch genommen. Neun Meter Abstand von der Bühne bis zur ersten Sitzreihe sind nach Beckers Angaben einzuhalten. Und das Publikum sitzt dichtgedrängt mit Masken im Gesicht im Parkett. Das Ganze ist eine Farce, aber es findet statt. Becker zeigt, was machbar ist. Ein wichtiges Signal.

Johanni van Oostrum – Foto © Susanne Diesner

Im Hintergrund des Podiums sind drei hochformatige Leinwände aufgehängt, auf denen die Projektionen von Stefan Bischoff gezeigt werden. Über die Bilder kann man diskutieren. Verdeutlichen sie anfangs noch die Schilderungen der Sprecher, wechseln sie später zu Aufnahmen aus der Normandie. Neben dem Befreiungsaspekt ist der Handlung auf der Bühne dann nicht mehr viel gemein. Die gute Absicht bleibt erkennbar, aber der Kannibalismus-Effekt siegt.

Ehe überhaupt die erste Note gespielt wird, begrüßt Becker das Publikum. Die gewohnte Nonchalance hat etwas gelitten. Danach weisen die Sprecher, Sonja Beißwenger und Andreas Grothgar, in die Hintergründe des Werks ein. Dirigent Adam Fischer erzählt die Geschichte seiner Mutter, die als Jüdin den Weltkrieg überlebte. Ein bewegender Moment. Dann hat die Musik das Wort. Ohne Partitur dirigiert Fischer, als ginge es um sein Leben. Manches Mal wünschte man sich statt der Bilder von Aufmärschen, Bombenabwürfen und den Stränden der Normandie mit ihren Bunkern Übertitel. Denn es mangelt an Textverständlichkeit.

Das ist eher der Akustik als den Sängern geschuldet. Johanni van Oostrum gelingt glänzend die Partie der Leonore. Als Florestan hat Maximilian Schmitt einen hervorragenden Einstieg. Warum er später zu näseln beginnt, ist eigentlich nicht verständlich. Torben Jürgens gefälllt als Don Fernando ebenso wie Michael Kupfer-Radecky als Don Pizarro. Tilmann Rönnebeck gibt Rocco, und Andrés Sulbarán tritt als Jaquino auf. Panagiota Sofroniadou hat die undankbare, weil im zweiten Akt nur unscheinbare Rolle der Marzellina übernommen. Von ihr hätte man gern – endlich wieder – mehr gehört. Gerhard Michalski hat den Chor der Deutschen Oper am Rhein gut auf seine Rolle an diesem Abend vorbereitet. Und so erschallen die Heilsrufe himmelsgleich von den Rängen. Das mag in der Wucht und mit den gezeigten Bildern im Hinterkopf ein wenig zu viel an Heil sein. Schließlich wollen wir Deutschen dieses Wort eigentlich nur noch in medizinischen Zusammenhängen hören. Aber wenn es den Amerikanern 1944 gefallen hat, soll es uns recht sein.

Überhaupt sind die Besucher weniger kritisch und erheben sich nach Ende der Aufführung, um ausführlich allen Beteiligten frenetisch zu applaudieren. Auch wenn man sich die Maske nach dem Erreichen des Ausgangs erleichtert vom Gesicht reißt: Der Plan Beckers ist aufgegangen. Und jetzt wird es Zeit, über die Idiotie zahlreicher Maßnahmen zu diskutieren, damit wir uns endlich wieder der Kunst zuwenden können.

Michael S. Zerban