O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Eins rauf mit Pappe

L’ENFANT ET LES SORTILÈGES/GIANNI SCHICCHI
(Maurice Ravel, Giacomo Puccini)

Besuch am
15. April 2023
(Premiere)

 

Robert-Schumann-Hochschule, Partika-Saal, Düsseldorf

Bis heute gibt es bei hervorragenden Leistungen die Belobigung „Eins rauf mit Mappe!“ im schulischen Bereich, auch wenn kaum noch jemand weiß, was es damit auf sich hat. Seit etwa 1920 gibt es diesen Begriff. Damals war es üblich, dass die guten Schüler vorne saßen. Glänzte ein Schüler mit einer sehr guten Leistung, wurde ihm das Lob zuteil und er durfte sich eine Bank weiter nach vorn mit seiner Federmappe setzen. Auch heute Abend findet eine schulische Veranstaltung statt. Bei der sitzt allerdings niemand vor dem Lehrer. Stattdessen lädt die Opernklasse der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf zur jährlichen Opernaufführung ein.

Kenner wissen, dass es solche Aufführungen an vielen Musikhochschulen gibt. Und es sind nicht etwa irgendwelche Wir-tun-mal-so-als-ob-Veranstaltungen, sondern meist Leistungsschauen, bei denen nicht selten etliche Bereiche der Hochschule eingebunden sind. Seit vielen Jahren leitet Thomas Gabrisch die Opernklasse in Düsseldorf und hat von Beginn an die Messlatte sehr hoch gelegt. Mindestens die Qualität einer Musiktheater-Aufführung am Stadttheater will er locker hinter sich lassen. Das ist nicht ganz so verwegen, wie es sich zunächst anhört. Schließlich kann der Professor über nahezu beliebig viele Sänger verfügen und sein Orchester selbst zusammenstellen. Bislang ist es ihm auch immer gelungen, ein Regie-Team zu finanzieren. Und nicht zuletzt darf er auf die Unterstützung der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg hoffen. So auch in diesem Jahr.

Und es kommt noch besser. Denn als Regisseur konnte Gabrisch endlich wieder einmal Gregor Horres gewinnen. Der war viele Jahre als freier Regisseur an den Opernbühnen Deutschlands unterwegs, kennt auch die Arbeitsbedingungen an der Robert-Schumann-Hochschule und arbeitet seit sieben Jahren als Leiter des Oberösterreichischen Opernstudios am Landestheater Linz. Wer also könnte bessere Voraussetzungen mitbringen, um den Nachwuchs in Düsseldorf zu Höchstleistungen anzuspornen? Dabei macht Gabrisch es ihm nicht ganz so leicht. Denn er hat für dieses Jahr eine ungewöhnliche Kombination gewählt: L’enfant et les Sortilèges – das Kind und die Zauberdinge – von Maurice Ravel und Gianni Schicchi von Giacomo Puccini haben als kleinsten gemeinsamen Nenner, dass es Sänger und Musik gibt.

Der Partika-Saal, das ist der Vielzwecksaal der Hochschule, ist an diesem Abend bis auf den letzten Platz besetzt. Das ist allerdings relativ. Denn Elisabeth Pedross hat bei der Bühne in die Vollen gegriffen. Sie hat von der Rheinoper eine vollständige Guckkastenbühne mit zwei Seitenbühnen und einer schiefen Ebene errichten lassen. Das schindet Eindruck. Davor „ergießt“ sich das 78-köpfige Orchester, das heuer ausschließlich aus Studenten der Hochschule besteht. In diesem Raum konfrontiert Horres Kostümbildnerin Yvonne Forster mit seiner Regie-Idee. Die Darsteller bekommen Papp-Masken. Ausnahmen sind die Hauptdarsteller, also das Kind bei Ravel und Schicchi bei Puccini. Entstanden sei die Idee, erzählt Horres, weil das Kind ständig Papier mit Figuren bemale. Daraus sei dann auch die „Klammer“ zwischen den beiden Stücken entstanden. Das ist gerade bei einem komödiantischen Stoff wie Gianni Schicchi durchaus gewagt, erwartet der Zuschauer doch hier auch mindestens die Mimik der Darsteller, wenn nicht gleich Grimassen. Das Geniale in diesem Zugriff liegt darin, dass der Zuschauer keine „nachgestellte Wirklichkeit“, sondern fantasievolles Theater zu sehen bekommt. Das ist mutig, welcher Regisseur traut sich heute noch so etwas? Und in der Tat, man muss sich daran gewöhnen, bei Puccini noch mehr als bei Ravel, bei dem ja das „Zauberhafte“ in der Luft liegt. Dass Horres bei Ravel zusätzlich Videos in einer großartigen Schwarzweiß-Ästhetik auf die Rückwand der Bühne projizieren lässt, hätte ein weiterer, wunderbarer Ansatz werden können, bleibt aber so ein bisschen auf halber Strecke stecken. Da ist insbesondere im Hinblick auf die Ästhetik zu hoffen, dass er das bei anderer Gelegenheit weiterverfolgt. Aufgabe hier aber ist, die Studenten in den Vordergrund zu rücken. Aber auch das gelingt nur bedingt, wenn die Gesichter hinter Papp-Masken verschwinden. Dass Horres längst Meister seines Fachs ist, zeigt er, wenn er mit seiner Personenführung insbesondere der Chöre dafür sorgt, dass man getrost auf die Mimiken verzichten kann.

Die Darsteller ihrerseits beweisen nicht nur ihre enorme Spielfreude, sondern auch ihr Können, indem sie die Masken in ihr Spiel einbauen. Dass das Publikum sich auf einen ausgezeichneten Nachwuchs freuen darf, zeigt beispielsweise Luzia Ostermann, die als Kind mit größtmöglicher Natürlichkeit und eindrucksvollem französischem Gesang begeistert. Dabei ist das Werk von Ravel eigentlich wenig geeignet, um sich als Sänger zu profilieren. Vielleicht wird es – neben der grundsätzlichen Abneigung deutscher Intendanten gegen französische Opern – deswegen so selten aufgeführt. Vielmehr gibt es hier eine Vielzahl von Rollen, die „ordentlich“ gesungen sein wollen. Was ja für eine studentische Aufführung im Grunde der Idealfall ist. Der besondere Reiz von L’enfant et les Sortilèges erschließt sich in der Orchestermusik. 1924 eben der Romantik entwachsen, wird das Orchester „durchsichtiger“, nicht die Tutti, sondern einzelne Klangfolgen und überraschende Effekte treten in den Vordergrund. Und um es vorwegzunehmen: Das Orchester meistert die feinziselierte Musik grandios.

Umso schöner, dass Gianni Schicchi als zweites Stück auf dem Programm steht. Mit all seiner Italianità stellt es eher noch eine Steigerung des Abends dar. Danach wäre es mit den Feinheiten Ravels vermutlich nicht mehr weit her gewesen. Horres liefert bei Puccinis Posse nicht nur eine intelligente Inszenierung ab. Sondern hier haben auch einzelne Sänger die Möglichkeit, sich zu profilieren. Angefangen bei Byung Jun Ko, der einen wirklich schelmischen Gianni Schicchi abliefert. Figürlich überzeugend besetzt, meistert er die verschiedenen Stimmlagen als er selbst und als Buoso traumhaft. Farnoosh Rahimi lässt als Zita mehrfach aufhorchen. Und den Gipfel erklimmt – mit unglaublicher Leichtigkeit – Shinyoung Lee als Lauretta. Ihr kommt ja die Aufgabe zu, eine der nach wie vor schönsten Arien der Opernliteratur zu interpretieren. O mio babbino caro klingt aus ihrer Kehle wie für sie geschrieben. Zu Recht gibt es hier Arienapplaus – und es hätte nicht viel zur Situation gefehlt, die früher üblich war: Dass das Publikum eine Wiederholung der Arie fordert. Auch die übrigen Rollen sind wahrhaft luxuriös besetzt. Ein Sonderlob gebührt dem Toten. Karl-Hermann Köster wird von Freunden kurz Kalle genannt und ist eigentlich Chorvorsitzender beim Konzertchor Ratingen. Heute hat er sich als Buoso Donati zur Verfügung gestellt und hält sich tapfer.

Neben der erwähnten hervorragenden Leistung des Orchesters bei der Musik Ravels zeigt sich das Orchester unter der Leitung von Thomas Gabrisch auch bei Gianni Schicchi von seiner besten Seite. An vielen Stellen horcht man auf, weil man die so transparent noch nicht gehört hat. Gabrisch weiß um die Stärken der beteiligten Musiker und Sänger, selten konnte man ihn so entspannt am Pult erleben.

Das Publikum ist hingerissen. Unter den Gästen auch der neue Rektor der Musikhochschule, Thomas Leander, und Luiza Fatyol, die als Ensemble-Mitglied der Rheinoper dieser Tage mit ihrem letzten Auftritt in der laufenden Spielzeit als Liù in Turandot begeisterte.

Wer diesen ganz besonderen Opernabend erleben möchte, hat dazu noch am 16., 18., 20. und 22. April Gelegenheit. Es lohnt sich.

Michael S. Zerban