O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Trost der Lebenden

EIN DEUTSCHES REQUIEM
(Johannes Brahms)

Besuch am
30. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Matthäikirche, Düsseldorf

Man muss kein großer Kenner der Materie sein, um festzustellen, dass allerorten die Qualität von Programmheften oder wenigstens noch Abendzetteln zurückgeht, wenn nicht der Einfachheit halber gleich darauf verzichtet wird. Dramaturgen und andere Autoren solcher Dokumente sind ja inzwischen so damit beschäftigt, ihre Geschlechterideologie unters Volk zu bringen, dass sie keine Zeit mehr für Inhalte haben. Auch der Kantor der Matthäikirche, Karlfried Haas, hat in seinem Vorwort nichts Besseres zu tun, als die Regeln der deutschen Sprache zu missachten. Dazu korreliert, dass die Aufführung gleich mal um einen Monat vordatiert wird. Wer bestehende Regeln ignoriert, hat auch keine Zeit, sich um so was wie korrekte Inhalte zu kümmern. Was ihn dann von anderen Verfassern unterscheidet, ist, dass er sich im Rest seines Programmheftchens wieder auf das Eigentliche besinnt und den Besuchern interessante Informationen bietet. Mit einfachen Mitteln bereitet er das Programm auf, gibt einen sehr lesenswerten Einblick in die Quellenlage und vergisst weder die Anmerkungen zu den Akteuren noch den Text des Werkes auf wenigen Seiten wiederzugeben. Da fühlt man sich in kürzester Zeit gut informiert über den bevorstehenden Abend.

Rolf A. Scheider – Foto © O-Ton

Zu dem finden überraschend viele Menschen zusammen. So viel Publikum hat man lange nicht mehr auf einen Haufen gesehen. Rund 1000 Plätze bietet die evangelische Matthäikirche an der Lindemannstraße in Düsseldorf nach eigenen Angaben für ein Konzert, und wenn hier 100 Plätze leerbleiben, ist das viel. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, woran eine solch unerwartete Kumulation liegt. Ist es der Ruf der Kantorei, das bekannte Werk oder womöglich der Umstand, dass viele Menschen einen Brückentag vor sich haben? Es ist in erster Linie egal, und in zweiter Linie ist es erfreulich. Man möchte nicht hoffen, dass es an der Maskenpflicht liegt, die die Kirche für diesen Abend ausgerufen hat. Aber immerhin hat die Kirche damit ein hochdiszipliniertes Publikum erreicht. Um 18 Uhr – Orchester und Chor haben sich versammelt – tritt absolute Ruhe ein. Der Kantor beweist einen gewissen Hang zur Dramatik, wenn er sein Publikum zwei Minuten warten lässt. Und so beginnt er auch sein Dirigat. Kontemplation ist das Zauberwort, die innere Sammlung, bevor der Trost der Lebenden beginnt.

Zwischen 1865 und 1868 komponierte Johannes Brahms Ein deutsches Requiem, das am 18. Februar 1869 im Leipziger Gewandhaus durch den Gewandhauschor seine erste vollständige Uraufführung erlebte, nachdem es in den Vorjahren bereits mindestens drei Teilaufführungen gab. Für den Komponisten bedeutete das Werk den Durchbruch, bis heute gilt es als sein wichtigstes Stück. Brahms revolutionierte, was es bislang an Requien und Oratorien gab. Nicht länger standen Leid und Klage über die Toten, die Erlösung der Toten und Jesus als der Erlöser im Mittelpunkt. Vielmehr ging es dem protestantischen Komponisten um die Lebenden. In letztlich sieben Sätzen stellte er Bibeltexte zusammen, die den Lebenden, den Überlebenden Trost und Hoffnung spenden sollten, ohne auch nur ein Quäntchen an Größe in der Musik vermissen zu lassen. „Ich musste immer, wie ich Johannes so da stehen sah mit dem Stab in der Hand, an meines teuren Roberts Prophezeiung denken, laßt den nur mal erst den Zauberstab ergreifen und mit dem Orchester und Chor wirken – welches sich heute erfüllte. Der Stab wurde wirklich zum Zauberstab und bezwang Alle, sogar seine entscheidendsten Feinde. Das war eine Wonne für mich, so beglückt fühlte ich mich lange nicht“, schrieb Clara Schumann in ihr Tagebuch.

Katharina Leyhe – Foto © O-Ton

Einen ähnlichen Effekt zu erreichen, versucht Haas am Pult, wenn er die Kantorei an Matthäi und das Symphonieorchester an Matthäi zu immer neuen Glanztaten antreibt. Es kann ihm nicht gelingen, durch die rosarote Brille der Verliebten auf das Stück zu schauen, aber das mit dem Zauberstab, da kommt er schon ziemlich nah ran. Dabei setzt er nicht auf die Stimmmacht der 40 Frauen und 22 Männer im Chor, sondern auf die Ausgewogenheit zwischen Chor und Orchester, auf Nuancen und eine feingliedrige Gestaltung. Nur wenige Male und an den richtigen Stellen lässt Haas dem Chor den kompletten Auslauf, um die wahre Größe des Abends zu unterstreichen. Zur Seite steht ihm Bass-Bariton Rolf A. Scheider, der wie ein Phönix aus der Asche steigt. Die Stimme wirkt ausgeruht, kraftvoll und rund, ja, balsamisch. Mit größtmöglicher Souveränität lässt er sich auf seinen Teil ein und zeigt die ganze Bedeutung des solistischen Auftritts. Auch Sopranistin Katharina Leyhe findet den nötigen Klang, um den Abend zu einem großen Ereignis werden zu lassen.

Man bedarf des Trostes nicht, um eine rundherum hervorragende Darbietung in der ausgezeichneten Akustik der Matthäikirche zu genießen. Und so erhebt sich das Publikum nach mehr als einer Stunde von den Bänken, um die Leistungen aller Akteure ausgiebig zu feiern.

Michael S. Zerban