O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Anja Beutler

Aktuelle Aufführungen

Ganz schön behindert

DIS_SYLPHIDE
(Saša Asentić)

Besuch am
13. Oktober 2018
(Premiere am 12. Oktober 2018)

 

Tanzhaus NRW, Düsseldorf

Immer noch ganz schön behindert sind die Deutschen, wenn es um die Auseinandersetzung mit körperlichen und geistigen Behinderungen geht. Die historischen Gräueltaten sitzen immer noch tief im kollektiven Gedächtnis, blockieren von dort aus eine unbefangene Auseinandersetzung in Sprache über und Umgang mit Menschen, die vom Durchschnitt abweichen. Jahrzehntelange Verdrängung erleichtert es nicht. Noch in den 1980-er Jahren waren Menschen mit Down-Syndrom ganz selbstverständlich die „Mongos“ in Anspielung auf ihr ungewöhnliches Aussehen. Und es war weniger diskriminierend gemeint als vielmehr Ausdruck eigener Verunsicherung. Das Wort ist inzwischen verpönt, die Unsicherheit geblieben. Aber es hat sich im Laufe der Jahre schon eine Menge verbessert. Es war ein Prozess der kleinen Schritte. Bis mit Macht unter dem äußerst merkwürdigen Begriff der Inklusion auf einmal uniform erreicht werden sollte, was eigentlich ein eher individueller Vorgang ist. Damit wurde eine Menge Porzellan zerschlagen – und wird es noch. Zwar weiß noch niemand, wie man eigentlich respektvolle Begriffe für behinderte Menschen findet, aber alle wollen mitreden. „Natürlich“ macht das auch vor den Bühnen nicht halt.

Foto © Anja Beutler

Allüberall herrscht Sprachlosigkeit und Verwirrung. Erste Arbeiten mit Behinderten zeigen, dass es auch in der Kritik an Erfahrung mangelt. Mit normierten Begriffen gibt es kaum ein Weiterkommen. Und vorgegebene Sprachregelungen führen schon gar nicht weiter. Auch die Kritik muss hier erst zu einem eigenen, unabhängigen Vokabular finden. Und das erfordert Experten, die es derzeit überhaupt noch nicht gibt. Das Tanzhaus NRW prescht im Tanz vor und stellt in der neuen Spielzeit Arbeiten mit Behinderten in den Mittelpunkt. Das Motto lautet response-ability. Eine Ethik der Begegnung. Dass englische Begriffe hervorragend zur Verschleierung eigenen Unwissens geeignet sind, ist bekannt. Und die Frage, die eine Worthülse wie Eine Ethik der Begegnung aufwirft, wird möglicherweise das Programm beantworten. Wie beispielsweise Dis_Sylphide von Saša Asentić. Der Choreograf gilt als Experte in der Bühnenarbeit mit Behinderten. Gemeinsam mit der unabhängigen Organisation für zeitgenössische darstellende Kunst Per.Art aus Novi Sad, Serbien, und dem „inklusiven“ Theaterensemble Meine Damen und Herren aus Hamburg, das sich aus Schauspielern mit geistigen Behinderungen zusammensetzt, hat er ein dreiteiliges Stück erarbeitet, das drei wegweisende Choreografien des 20. Jahrhunderts beleuchtet.

Vorsichtshalber hat das Tanzhaus die Veranstaltung ins Studio verlegt, und die Besucherzahlen geben ihm Recht. Die Tribüne des Studios ist gerade mal halbwegs gut besucht. Für die Bühne sind die Vorgaben denkbar gering. Ein paar schwarzgestrichene Holzkästen als Sitzgelegenheiten, die hinterher durch Stühle ersetzt werden, reichen, um den ganz großen Choreografen gerecht zu werden. Zu Beginn sitzen die Darsteller, ganz in Schwarz gekleidet, im Kreis. Ein paar Worte werden vorgetragen, die auf den ersten Teil hinführen. Mary Wigmans Hexentanz steht auf dem Programm. Und schon stehen wir vor der großen Frage. Wie gehen wir damit um? Die hochgewachsene, asketische Wigman im Fantasie-Kleid fasziniert noch in Schwarzweiß-Aufnahmen mit ihrem Parade-Stück des Ausdruckstanzes von 1926. Vor uns jetzt eine kleine, dickliche, schwerfällige Person, die sich schwarzgewandet um Imitation bemüht, sich schließlich das schwarze Gewand vom Körper reißt, um regelrecht trotzig den fülligen Körper zu präsentieren. Was ist das? Müssen wir das großartig finden, weil eine Frau nicht annähernd an die Faszination Wigmans herankommt, aber behindert ist? Mitleid ist ja wohl ganz außerhalb der Diskussion. Immerhin, das Umfeld stimmt. Die trommelnden Hände der anderen Darsteller, das Rascheln des Zellophans, die Schreie – das bewirkt eine Stimmung, die dem Hexentanz gerecht wird. Konzentrieren wir uns also darauf.

Foto © Anja Beutler

Im zweiten Teil des Abends ist der legendäre Kontakthof von Pina Bausch angesagt. Nach der kurzen Eingangsszene ist Schluss. Eine eigentlich 50-minütige Diskussion wird angesetzt, die dann, nicht überraschend, auf 80 Minuten ausgeweitet wird. Der Kontakthof ist Tanztheater, das sich um die Zurückweisung dreht. Die Behinderung steht im Mittelpunkt der Schilderungen. Ein schweizerisches Festival hat das Stück abgelehnt, weil es sich nicht für die behinderten Besucher eigne. Und so weiter und so fort geht es in drei Sprachen, bis eine Besucherin interveniert, dass sie es leid sei, ständig von Behinderungen zu hören, weil sie hier auf der Bühne nur Menschen sehe. Das ist nett gemeint und zeugt von einer humanistischen Bildung. Das Problem löst es nicht. Nach zwei weiteren Szenen, die Zurückweisung demonstrieren, werden dann die Gäste auf die Tanzfläche geholt, während einer der Darsteller einen herzergreifenden Tango singt. Und eigentlich wäre damit ein schöner Ausklang des Abends gefunden. Findet auch das Publikum, das vereinzelt applaudiert.

Aber es steht noch der dritte, halbstündige Teil mit Self unfinished vom Xavier Le Roy an. Eine vollständig andere Ästhetik, die den behinderten Körpern vielleicht am ehesten gerecht wird. Le Roy suhlt sich in Langsamkeit und Metamorphosen. Und damit wird es der langatmigste, stillste Teil des Abends, weil begleitende Musik hier nicht vorgesehen ist. Ob die Dramaturgie hier wirklich geschickt gewählt ist, bleibe dahingestellt.

Genauso, wie die Frage, ob hier einfach die falschen Stücke ausgewählt wurden – in Hamburg feiert Meine Damen und Herren einen Erfolg nach dem anderen. Die Frage, wie wir im Tanz miteinander umgehen, ist an diesem Abend nicht annähernd beantwortet worden. Von Themen wie dem zehnminütig verspäteten Beginn des Abends und einer halbstündigen Überziehung ganz abgesehen, die die Behinderten nicht zu verantworten haben. Das Publikum lässt sich ganz von der Sympathie der Darsteller gefangen nehmen und applaudiert teilweise im Stehen. Aber trägt das dauerhaft? Die Heimreise ist von Nachdenklichkeit geprägt.

Michael S. Zerban