O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Leidenschaftliche Kreuzigung

THE CRUCIFIXION
(John Stainer)

Besuch am
13. März 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Bachverein Düsseldorf in der Lambertuskirche, Düsseldorf

Der Sonntag klingt angenehm aus. Warme Frühlingsluft hat sich in den Gassen und auf den Plätzen der Düsseldorfer Altstadt ausgebreitet. Der Stiftsplatz liegt im Dunkel da, die Lambertuskirche, deren gedrehter Turm zu den Wahrzeichen Düsseldorfs gehört, ragt in die Höhe, warmes Licht flutet aus der weit geöffneten Eingangstür. Die Situation wirkt unnatürlich friedlich, während anderswo gerade ein weiterer Krieg wütet. Darf man den für die kommenden zwei Stunden einfach mal vergessen? Nein. Sagt der Bachverein Düsseldorf.

Der Chor wurde 1870 gegründet und existiert damit seit über 150 Jahren. Erstaunlich, wie gering die Anzahl der Chorleiter geblieben ist. Nach der Gründung durch den damaligen Musikdirektor der Stadt, Wilhelm Schauseil, der übrigens Clara Schumann und Lili Lehmann zu den Mitgliedern des Chores zählen durfte, folgten Joseph Neyes, der Sänger wie Peter Pears, Hermann Prey oder Dietrich Fischer-Dieskau verpflichten konnte, Hans-Josef Irmen, Wolfram Fürlls und Thorsten Pech. Das klingt nach strenger Tradition. Die will Alexander Niehues jetzt auflockern. Der neue Kantor der Lambertuskirche hat seit August 2021 auch die künstlerische Leitung des Chors inne. Er will, so ist auf der Website des Chors zu lesen, „das Profil des Bachvereins insbesondere im Bereich der A-cappella-Musik weiterentwickeln“. Deshalb stehen bei ihm im Vordergrund „die klangliche Differenziertheit und Ausgewogenheit sowie die Schärfung der dynamischen Bandbreite“. Oha. Das klingt für einen etwa 35-köpfigen Laienchor nicht mehr nach Hobby. Aber der Trend zur Professionalisierung ist seit vielen Jahren bei einer ganzen Reihe von Chören zu beobachten, und das scheint tatsächlich auch den Bedürfnissen der Teilnehmer entgegenzukommen. Das bestätigt der heutige Abend allemal.

Edward Ross – Foto © O-Ton

Bevor es aber mit dem eigentlichen Ereignis losgeht, ist es dem Chor, der bereits einen Teil seiner Einnahmen spendet, „um die Not der Menschen in der Ukraine zu mindern“, eine Herzensangelegenheit, an die Menschen zu denken, denen man im Moment so wenig helfen kann, weil sie im Kriegsgebiet überleben müssen. Und so wird dem Hauptwerk die Choralkantate Verleih uns Frieden gnädiglich von Felix Mendelssohn Bartholdy aus dem Jahr 1831 nach einem Gebet von Martin Luther vorangestellt. Ein gutes Signal, das den Besuchern erlaubt, ganz ohne Lippenbekenntnisse an das zu denken, was uns gerade alle so wahnsinnig beschäftigt, ohne dass wir die rechten Worte dafür finden. Angenehm auch, dass Niehues keine schwülstigen Reden hält, sondern das Anliegen des Chors kurz und knapp formuliert, ehe der Chor selbst zu Wort kommt.

Um Krieg, genauer um einen Glaubenskrieg, geht es im Grunde auch bei der Geschichte Jesu Christi. Der scheint einen vorläufigen Höhepunkt in der Kreuzigung des Gottessohnes zu finden. The Crucifixion – die Kreuzigung – ist ein Passionsoratorium von John Stainer mit Texten von W. John Sparrow-Simpson, das am 24. Februar 1887 uraufgeführt wurde und sich seither größter Beliebtheit in der anglikanischen Chormusik erfreut.

Wenn Kritiker das Oratorium als „zu lyrisch“ verstehen, zeigt der Chor in der Lambertuskirche, dass gerade darin eine der Stärken des Werks liegt. Kultiviert und edel, stellenweise fast zart erzählen die Sänger ihre Geschichte, tragen die Lobpreisungen schon beinahe liebevoll vor. Da fällt es Wolfram Koloseus leicht, an den Orgeln passende Akzente zu setzen, in dem er sie wechselweise einsetzt und damit den Raumklang noch einmal unterstreicht. In den begleitenden Passagen belässt er den Klang der Instrumente im Hintergrund, sehr zum Vorteil der Sänger, die auch dann dem Fortgang hochkonzentriert folgen, wenn sie nicht gerade an der Reihe sind. Unter den Choristen hervorzuheben sind Alexander Freihaut und Masato Kanzaki als Hohepriester sowie André Weise und Thomas Scheithauer als Schächer. Mit ihrem Einsatz entsteht in der Tiefe des Raums fast ein theatraler Eindruck, der dem Geschehen Elektrisierendes verleiht.

Beniamin Pop – Foto © O-Ton

Aus den Niederlanden ist der Tenor Edward Ross angereist, um kurzfristig für den erkrankten Corby Welch einzuspringen. Eine erlesene Stimme, die sich wunderbar in die Chorgesänge einschmiegt. Und spätestens, wenn Ross bei der Erhabenheit der göttlichen Demütigung ganz aus sich herausgeht, ist einer der absoluten Höhepunkte des Abends erreicht, dem Koloseus einen gebührenden Abschluss schenkt. Nicht minder gehaltvoll und farbenreich zeigt sich der Bass Beniamin Pop, seit vier Jahren dem Ensemble der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg angehörig. Er darf den Gesamteindruck in gebührender Tiefe abrunden.

Alexander Niehues weiß, seinen Chor „auf Händen zu tragen“. So zumindest könnte man das Dirigat verstehen, wenn seine Arme sich weit ausbreiten, um den Choristen die motivierende Stütze zu bieten, die sie gern annehmen. Und so explodiert die Erzählung auch nicht in einem rauschhaften Finale, sondern landet im weichen Sinkflug langanhaltender, unaufgeregter Lobpreisungen Jesu, ehe das Amen den musikalischen Höhenflug beendet.

Die Zartheit und Eleganz im Vortrag des Chores in Verbindung mit der altenglischen Sprache geht bisweilen auf Kosten der Verständlichkeit. Das Publikum stört das nicht, denn es fühlt sich mit dem vorbildlichen Programmheft gut aufgehoben, das sowohl den englischen Text als auch die deutsche Übersetzung bietet. Nach einem Moment der inneren Sammlung bedankt sich das Publikum mit gehörigem Applaus, bei dem alle Beteiligten gleichermaßen bedacht werden. Einmal mehr zeigt sich, dass nicht die zahlenmäßige Größe des Chors entscheidend ist, um auch über den Tag hinaus zu wirken. Dieser wunderbare Abend jedenfalls wird den Menschen noch lange in Erinnerung bleiben.

Michael S. Zerban