O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Michael Zerban

Aktuelle Aufführungen

Zwischen Mythen, Lebenswirklichkeit und Träumen

COASTAL SOULS
(Jacqueline Fischer)

Besuch am
19. Dezember 2025
(Probenbesuch)

 

Theater der Klänge, Düsseldorf

Jetzt ist es passiert. Das Kind ist geboren. Gewiss, die Nabelschnur muss noch durchtrennt, die Käseschmiere entfernt und der Säugling der Mutter an die Brust gelegt werden. Aber das Neugeborene ist da. Ein ähnliches Gefühl der Glückseligkeit dürfte Jacqueline Fischer an diesem Nachmittag beschlichen haben, nachdem der erste Durchlauf ihrer neuen Choreografie nach eineinviertel Stunden über die Bühne gegangen ist. Statt Champagner gibt es eine erste kritische Nachbesprechung, aber die Augen der Akteure glänzen.

Foto © Michael Zerban

Der erste Durchlauf eines Stücks offenbart die Schwächen schonungslos, zeigt die Brüche auf, die bis zur Uraufführung noch gekittet werden müssen. Julio Escobar hat heute gesehen, wo seine Ideen zum Lichtdesign zwar zündeten, aber an mancher Stelle die Übergänge noch nicht stimmen, das Licht plötzlich blendet, statt zu überzeugen. Gewiss können die Video-Sequenzen, die wichtiger Bestandteil sind, beeindrucken. Trotzdem wird Varun Krishnan noch intensiv daran feilen, um die Stimmung zu untermalen. Auch bei den Kostümen, die Caterina di Fiore zusammen mit dem Ensemble entwickelt hat, zeigen sich noch Verbesserungsmöglichkeiten, weil in der Praxis das Kleid zu sehr aufbauscht oder sich die Flosse der Meerjungfrau noch nicht elegant genug öffnet. Für Nikos Salmouris und Rainer Ortmann, die sich um die Bühne kümmern, wird noch allerhand zu tun sein, damit die Tänzerinnen beim Verschieben der Stege nicht allzu sehr außer Atem geraten, und der „Fels“ nicht der Hälfte der Besucher den Blick auf den Tanz verhindert. Jörg U. Lensing wird in den nächsten Tagen noch fleißig an der Balance zwischen den Originalstimmen und seinen elektronischen Klängen pegeln und Fischer überlegen, wo noch tänzerische Elemente zu ergänzen sind. Das Normalste auf der Welt. Beunruhigt niemanden weiter. Weil das Ergebnis stimmt.

Zwei Jahre haben Jörg U. Lensing, Gründer und Leiter des Theaters der Klänge in Düsseldorf, und seine Frau, die Choreografin Jacqueline Fischer, an ihrem neuen Stück Coastal Souls – Mermaid Echoes gearbeitet. Sie sind nach Hammerfest in Norwegen, nach Ermioni in Griechenland und ins spanische Baskenland gereist, um sich mit Küstenbewohnerinnen über ihre Befindlichkeiten, Traditionen, Wünsche und Träume zu unterhalten. Dabei war ihnen von Anfang an klar, dass am Ende ihrer Recherche keine Sozialdokumentation auf der Bühne, kein politisches und kein ideologisches Theater stehen sollte. Fischer wollte eine „poetische Verdichtung realer Lebensgeschichten“ entstehen lassen. Glücklicherweise, das kann man heute Nachmittag erfahren, ist das mit dem „real“ relativ.

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Denn neben dem rauen Alltag der Fischers- und Kapitänsfrauen lässt die Choreografin auch Raum für die Mythen, die alten Geschichten und das pure Glück im Tanz. Vier Tänzerinnen flicken nicht nur Netze, winken ihren Angetrauten nach, wenn sie auf See gehen, nein, sie werden auch zu Bräuten, Witwen und Meerjungfrauen, die ihre eigene Metamorphose erleben. Mariane Verbecq ist erkrankt, wohnt der Probe über das Internet bei, wird aber an der Uraufführung teilnehmen, Julia Monschau, Angela Matabuena und Antonia Thomsen erzählen tänzerisch, was Lensing in Originalzitaten in seine Klänge einbaut. Vom ersten Augenblick an fühlt der Zuschauer sich an eigene Erfahrungen bei Küstenbesuchen erinnert. Auch die Stimmung bei Peter Grimes, der Oper von Benjamin Britten, unter der Dorfbevölkerung wird assoziiert. Die Rauheit, das Ursprüngliche, der Mythos kribbeln bereits ab den ersten Bildern und Klängen unter der Haut. Man spürt die Gischt im Gesicht, lässt sich gefangen nehmen von den Sagen, die rund um zerklüftete Felsenlandschaften aufschäumen, fühlt sich gleichermaßen geborgen in den Alltagssorgen wie der Welt entrückt angesichts der Kräfte der Natur, die uns Demut abverlangen.

Bei den Tänzerinnen spürt man in jeder Sekunde die Freude, sich auf die einzigartige Welt an den Küsten mitsamt ihren Geschichten einzulassen. Jacqueline Fischer ist hier ein Stück gelungen, das weit mehr bietet als die moralischen Belehrungen „modernen“ Theaters. Hier darf man sich auf Gefühlswelten einlassen, die über den Tag hinausreichen. Die Uraufführung findet am 15. Januar im Düsseldorfer Templum statt. Das neue Jahr fängt also gut an.

Michael S. Zerban

Mehr Bilder zum Probenbesuch können Sie hier sehen.