O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Italienische Lebensfreude

CANZONI D‘AMORE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
7. Juni 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Schumannfest, Neanderkirche, Düsseldorf

Aufruhr in der Neanderkirche. Beim Schumannfest, das vom 2. bis zum 18. Juni von der Tonhalle ausgerichtet wird, werden auch andere Spielstätten in das Programm einbezogen. Und so hat Maja Plüddemann, Leiterin des diesjährigen Schumannfestes, Soqquadro Italiano, eben italienischer Aufruhr, in die Kirche in der Düsseldorfer Altstadt eingeladen. Das Ensemble unter der künstlerischen Leitung von Claudio Borgianni, der nicht mit in die Kirche gekommen ist, ansonsten aber für die Konzeptentwicklung zuständig ist, hat sich in Europa einen Namen im Bereich Klassik-Crossover gemacht. „Crossover“ hat inzwischen ein wenig von seinem Schrecken verloren. Klassik-Puristen haben im Lauf der Jahre mehr Gelassenheit an den Tag gelegt, und für Menschen, die Berührungsängste mit der klassischen Musik haben, ist es ein probater Weg, sich dem Genre zwanglos zu nähern. Zumal es auch im Crossover-Bereich die Guten und die Schlechten gibt. Soqquadro Italiano gehören eindeutig zu den Guten. Ihr Erfolg gibt den Musikern Recht, die die Grenzen von alter Musik, Jazz, Pop bis hin zur elektronischen Musik elegant überwinden. Inzwischen richten sie sogar ihr eigenes Festival aus.

In Düsseldorf treten sie mit einem eigenen Programm und einem ihrer Mitbegründer auf. Vincenzo Capezzuto hat eine ungewöhnliche Karriere beschritten. Nach seiner Ausbildung zum Tänzer im Ballett des Teatro San Carlo in Neapel, trat er schnell als Solist unter namhaften Choreografen hervor. Mit dem Wechsel zum Gesang wurde er ebenso schnell begehrter Countertenor und darf auf zahlreiche Aufnahmen aus dem Bereich der alten Musik mit bekannten Ensembles zurückblicken. Heute bringt er Canzoni d’amore, also Liebeslieder, mit. Zunächst einmal nicht wirklich etwas Ungewöhnliches. Einen Liederabend mit Liebesliedern hat es oft in der Neanderkirche gegeben, die sich akustisch dafür vorzüglich eignet. Die Musiker nehmen in der Mitte der Kirche im Halbkreis Platz: Simone Vallerotonda hat Barockgitarre und Laute mitgebracht, Giuseppe Franchellucci wird ganz ungewöhnliche Klänge auf seinem Cello produzieren und Leonardo Ramadori ist als Perkussionist so etwas wie der Tausendsassa in der Runde. Knapp drei Viertel der Plätze im Erdgeschoss sind besetzt, das hat man schon anders gesehen, der Balkon wird erst gar nicht geöffnet.

Vincenzo Capezzuto – Foto © Susanne Diesner

Capezzuto eröffnet mit Si salvi, che può!, auf Deutsch: Rette sich, wer kann, einem Lied von Alessandro Stradella aus dem 17. Jahrhundert. Das hat nun mit Liebesliedern herzlich wenig zu tun, auch der Text klingt eher nach Weltuntergang. Aber es ist die passende Eröffnung für den Sänger, der hier gleich mal zeigen kann, auf welchem Niveau der Abend stattfinden wird. Gute bis herausragende Countertenöre gibt es ja inzwischen eine ganze Menge, auch wenn sie in den letzten Jahren allmählich wieder aus dem Rampenlicht verschwunden sind. Männliche Soprane, die sich in der Tradition der Kastraten sehen und Rollen vor allem in der Oper singen, die ihnen Komponisten wie Monteverdi, Scarlatti, Händel, Mozart und Rossini auf den Leib geschrieben haben. Veranlagung und Stimmschulung sorgen für erstaunliche Stimmumfänge. Aber sie klingen eben wie männliche Soprane oder auch Altistinnen, je nach Geschmack. Nur mit den Kastraten haben sie nicht wirklich zu tun. Vom 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert schreckten Menschen nicht davor zurück, Jungen vor der Pubertät einer Kastration zu unterziehen, um den hormonell bedingten Stimmwechsel zu unterbinden. Dazu wurden ihnen die Hoden als Keimdrüsen der Hormone operativ entfernt. Was, vor allem, wenn man die medizinischen Möglichkeiten jener Zeit erinnert, eher Alpträume verursacht, war zunächst einer edlen Absicht unterworfen. Wer einmal die „engelsgleiche“ Stimme eines Zehnjährigen in den Hallen einer Kirche gehört hat, der seine Jugend mit kaum anderem als der Ausbildung seiner Stimme verbracht hat, vermag vielleicht den Wunsch verstehen, eine solche Stimme zu bewahren. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es alsbald um handfeste finanzielle Interessen ging, sondern erklären, was die Menschen zu solchen Gräueltaten veranlasste. Nun, Capezzuto klingt eben nicht wie ein männlicher Sopran, sondern wie ein zehnjähriger, unendlich gut geschulter Junge.

Das haut einen erst mal aus den Socken. Zumal der Bologneser nicht auf Affekte hinaus ist, sondern seine Stimme als „natürliches Instrument“ einsetzt. Das muss man einmal, eben bei Si salvi, che può!, gehört haben. Dabei steht Capezzuto nicht applausheischend im Raum herum, sondern zeigt mit unendlicher Eleganz, was ihm als Tänzer in Fleisch und Blut übergegangen ist. Das muss man erst mal verdauen, weil man es noch nicht erlebt hat. Ein paar Sekunden eines Intermezzos, das Franchellucci kunstvoll gestaltet, ehe es mit einem weiteren Instrumentalstück von Alessandro Piccinini – ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert – in der Bearbeitung von Borgianni weitergeht. Da spielt Capezzuto schlicht und ergreifend eine Tröte im Verbund von Laute, Cello und Trommel.

Leonardo Ramadori – Foto © Susanne Diesner

Welch eine Schande, dass das Programmheft keine Textübersetzungen anbietet. Immerhin gibt es zu dem Lied La bella più bella, die schönste Schönheit, von Luigi Roma aus dem 16. Jahrhundert wie zu den folgenden Stücken eine kurze Erläuterung, um wenigstens eine Idee vom Inhalt des Liedes zu bekommen. Bei La valasseide von Giulio Cesare Cortese aus dem 16. Jahrhundert in der Bearbeitung von Borgianni trägt Capezzuto unter kunstvollem Fingerschnipsen und perkussiver Begleitung ein Gedicht vor, das die Geschichte eines neapolitanischen Dieners erzählt.

„Ich möchte mich in einen Vogel verwandeln, an dein Fenster fliegen und dir ein Wort der Liebe sagen“. So klingt das schöne, ruhige Liebeslied Vurria ca poss’io ciaola, einem Volkslied aus dem 16. Jahrhundert. Daran schließt sich eine typisch neapolitanische Weise aus dem 17. Jahrhundert an. A la brutta scartellata erzählt die Geschichte von einer kleinen, buckligen Frau, die so gefürchtet ist, „dass sich sogar das Meer zurückzieht, um ihre Füße nicht zu berühren“. Der Wechsel zur sizilianischen Sprache erfolgt in dem Lied Scuntenti cori miu, weil keine andere Sprache, so ist zu lesen, den Schmerz des Abschieds so schön schildern kann – insbesondere, wenn Ramadori das in der Bearbeitung des Liedes aus dem 17. Jahrhundert mit einer Melodica untermalen darf. Mit zwei weiteren Liedern, die instrumental vorgetragen werden, dürfen sich Franchellucci und Vallerotonde profilieren. „Wie ein Tango, gespielt in einem Tanzsaal in der Emilia Romagna in den 60-er Jahren“ pfeift Vallerotondo sich eins zur Begleitung von Cello, Rasseln und Gesang.

Spätestens bei Bischizzo a bella ballerina bedauert man, nicht inmitten italienischen Publikums zu sitzen. Das Wortspiel und der Zungenbrecher hätte man dort sicher mit Johlen, Zwischenrufen und Lachern erlebt, spätestens wenn Capezzuto die Menschen zum Mitpfeifen auffordert. So bleibt nur noch, das Trommelsolo und das anschließende Schlussstück La canzione del guarracino con l’adoro di Meneghino als pantomimischen Tanz zu genießen, mit dem Capezzuto das Lied schon fast im Stil der Commedia dell’arte präsentiert. Ein in jeder Hinsicht herrlicher Abend wird von den Besuchern im Stehen applaudiert. Zwei Zugaben, in denen Capezzuto noch einmal die Brillanz seiner Stimme zur Geltung bringt, beenden schließlich das gesangliche Vergnügen.

Vor der Kirche haben inzwischen die Mitarbeiter der Tonhalle Getränke aufgetischt, die noch ein wenig zum Bleiben animieren sollen. Eine Neuerung in diesem Jahr, von deren Wirkung man sich bei späteren Veranstaltungen noch einmal genauer überzeugen lassen will.

Michael S. Zerban