O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Susanne Diesner

Aktuelle Aufführungen

Große Sause

BRAHMS-REQUIEM
(Gustav Mahler, Johannes Brahms)

Besuch am
17. September 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Tonhalle, Düsseldorf

Im Leben vieler Chöre, vor allem der erfolgreichen, geht es eigentlich herzlich wenig um das Singen. Natürlich gibt es die Probenabende, aber sie dauern viel länger, als es auf dem Stundenplan steht. Weil unter den Choristen vorher und nachher so viel zu besprechen ist, was in den wenigsten Fällen mit der richtigen Noteninterpretation zu tun hat. Chorwochenenden für intensivierte Proben vor wichtigen Auftritten stärken die Gemeinschaft zusätzlich. Und Chorreisen gelten unter den Sängern häufig als Krönung ihres Steckenpferdes. Weil Laien-Chöre in der Regel nicht öffentlich gefördert werden, heißt es, in die eigene Geldbörse zu greifen. Klagen hört man darüber üblicherweise nicht.

Die wurden während der Pandemie laut, als es die wöchentlichen Zusammenkünfte nicht mehr gab. Aber engagierte Chorleiter hielten ihre Gemeinschaften mit Übungsabenden über das Internet zusammen, und den Rest erledigten die Choristen telefonisch. Es ist also die Gemeinschaft, im besten Fall sind es die Freundschaften, die den Chor am Leben erhalten. Ein Chorleiter hat also wesentlich mehr Aufgaben als der Dirigent eines Orchesters. Er kann sich nicht damit begnügen, interessante Projekte aufzusetzen und die musikalische Perfektion des Chores zu erreichen, sondern muss immer das soziale Netzwerk im Auge haben.

Thomas Gabrisch – Foto © Susanne Diesner

Das ist auch beim Konzertchor Ratingen nicht anders. Gründung durch Josef A. Waggin und die nächsten 40 Jahre sind Geschichte. Wenn nach so langer Zeit ein Wechsel des Chorleiters ansteht, ist das für den Chor immer eine Zeit der Krise. Der Konzertchor Ratingen hatte Glück. Thomas Gabrisch, Professor für die Opernklasse an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf, konnte für die Leitung gewonnen werden. Die nächsten zehn Jahre rutschten quasi so durch. Ein eigenes Orchester für den Chor wurde gegründet, ungewöhnliche Projekte beherrschten die Programmpläne, namhafte Solisten bevölkerten die Bühne, von Chorreisen nach Italien, Spanien, Uruguay und Argentinien ganz zu schweigen.

Und in diesem Jahr wird der Chor 50 Jahre alt. Aus Sicht der Choristen ein besonderer Grund zu feiern, zumal der Chor wieder seine alte Stärke vor der Pandemie erreicht hat. Ein großes Gala-Konzert im Mai war das Minimum, war wirklich großartig, konnte aber nicht alles gewesen sein. Gabrisch zog an den Fäden seines Netzwerks. Und setzte sich mit Ernst von Marschall zusammen, seit 35 Jahren für die Jugendabteilungen der Tonhalle zuständig. Mit dabei das Jugendsinfonieorchester des Konzertsaals in der Landeshauptstadt. Beiden gefiel die Idee gut, wenn sich die Alten mit den Jungen verbünden und etwas Großes auf die Beine stellen. Eine Konzertreise nach Italien, beispielsweise? Ja, gerne.

„Und natürlich gibt es ein Big-Bang-Konzert“, beschloss von Marschall. Die Reihe mit dem Namen Großer Auftakt ist dem Jugendsinfonieorchester vorbehalten. Gabrisch konnte noch einen Trumpf drauflegen. Schließlich leitet er seit einem Jahr auch den Chor der Landesregierung. Wenn man also beide Chöre zusammenlegte, sähe es auf den Stuhlreihen hinter der Bühne auch nicht so leer aus. Gesagt, getan.

Und so bietet sich den zahlreichen Besuchern in der Tonhalle am Sonntagabend ein nicht alltäglicher Anblick. Auf der Bühne nehmen rund 70 Orchestermitglieder, alle über 16, aber viele auch nicht viel darüber, Platz, auf der Empore dahinter sitzen rund 130 Choristen. 200 Menschen verschiedener Generationen, die in zwei Wochen nach Italien aufbrechen werden, um im Dom von Rovigo, in der Basilika Santa Giustina in Padua und in der Basilika San Giorgio Maggiore in Venedig aufzutreten. Jetzt aber müssen sie erst mal das Düsseldorfer Publikum mit ihrem Programm überzeugen.

Die musikalische Literatur für einen Konzertchor ist eher beschränkt. Schnell landet man da in der Kirchenmusik, was ja ganz reizvoll sein mag, aber eigentlich in eine falsche Richtung führt. Einen gelungenen Mittelweg findet man bei Johannes Brahms. Der hat Ein deutsches Requiem geschrieben. Zwei Begriffe sind dabei irreführend. Denn Brahms wollte kein „deutsches“, sondern ein Requiem für alle Menschen komponieren. Und ein Requiem, also die musikalische Liturgie-Wiedergabe, ist es auch nicht. Stattdessen wählte der Komponist, der über seine Verbindung zur Familie Schumann so eng mit Düsseldorf verbunden ist, Bibeltexte aus, die den Hinterbliebenen Trost spenden sollten.

Peter Schöne und Sabine Schneider – Foto © Susanne Diesner

Es ist das alte Dilemma. Eigentlich ist es aus Sicht des Hörers vollkommen ausreichend, sich ganz auf das Brahms-Requiem einzulassen. Etwas mehr als eine Stunde. Wunderbar. Der Konzert-Veranstalter sieht das anders. Wo ist die Pause, in der wir labbrige Brezeln und Getränke verkaufen können? Und wie sollen wir die Eintrittspreise rechtfertigen, wenn wir nach einer Stunde fertig sind? Wohlgemerkt. Der Konzert-Veranstalter ist bereits mit Steuergeldern bezahlt. Aber wer sich mehr um Kasse als um Kultur kümmert, sieht das Potenzial. Also wird nicht nur die Trost-Musik gespielt, sondern vorneweg noch Gustav Mahler. Wenigstens einen Satz. Aus der Unvollendeten, der zehnten Sinfonie, gibt es das Adagio. Das gehört zum gängigen Konzertrepertoire, kann also Konzertgängern nicht wehtun.

Hatte Gabrisch im Vorfeld falsche Töne als unvermeidlich angesehen, muss man schon die Partitur mitlesen, um sie an diesem Abend zu hören. Um ins Jugendsinfonieorchester zu kommen, muss man 16 Jahre alt sein, bereits viele Jahre in den jüngeren Abteilungen der Tonhalle verbracht und ein Probespiel absolviert haben. Nicht ganz abwegig die Vermutung, dass hier der eine oder andere Musiker bereits an Wettbewerben teilnimmt. Und so genießt das Jugendsinfonieorchester längst die Sympathien der Besucher, denen sie an diesem Abend voll und ganz gerecht werden. Das Adagio wird ein vielapplaudierter Erfolg.

Und dann schlägt endlich die große Stunde des Chors – des Orchesters und der Solisten. Gabrisch widersteht angesichts der Masse Mensch der Versuchung, mit forcierten Tempi oder Lautstärkeausbrüchen zu punkten, sondern leitet die verschiedenen Klangkörper mit ihren unterschiedlichen Kulturen sehr elegant und fein austariert durch das Requiem. Bariton Peter Schöne erfreut durch balsamische Töne und Sopranistin Sabine Schneider entzückt mit ihrem Gesang so sehr, dass vereinzelte Besucher nach ihrem Solo spontan applaudieren.

Für den Chor ist es ein Fest, und er genießt es. Größtmögliche Textverständlichkeit zeugt von sauberer Gesangskultur, reicht aber nicht zum völligen Verständnis. Da wird an den Übertiteln gespart und stattdessen dem Programm ein Textblatt beigelegt – was bei stark gedämpftem Licht nicht lesbar ist. Das Manko wird von den Besuchern geflissentlich übersehen, das sich im Beifall kaum bremsen kann, als die Tröstungen vorüber sind. Feststeht, dass man stolz darauf sein kann, wenn die Sänger und Instrumentalisten als Botschafter nach Italien reisen.

Michael S. Zerban

Zum Audiobeitrag mit Thomas Gabrisch über das Konzert