O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Klaus Hoffmann

Aktuelle Aufführungen

Totentanz

2 UHR 14
(Only Ask Valery!)

Besuch am
7. Februar 2018
(Premiere am 4. Februar 2018)

 

Forum Freies Theater, Düsseldorf, Jahnstraße

Rund 10.000 Schüler im Alter zwischen 16 und 19 Jahren besuchen das Dawson College im kanadischen Montreal. Am 13. September 2006 betritt ein Mann, vielleicht 25 Jahre alt, mit Irokesen-Haarschnitt und schwarzem Mantel in der Mittagszeit die Schule. Er führt drei Waffen mit sich, darunter ein Maschinengewehr. Nachdem er ein Blutbad angerichtet hat, erschießt ihn die Polizei.

David Paquet interessiert sich nicht für den Täter. Es ist ihm egal, ob der Typ sich vorher an Videospielen berauscht hat, welche Waffen woher stammen oder dass der Mörder zumindest intelligent genug war, einen Blog zu betreiben. Der kanadische Autor, Jahrgang 1978, fragt in seinem Stück 2 Uhr 14 nach den Opfern. Exemplarisch zeigt er, was die Betroffenen umtrieb, welche Ängste, welche Hoffnungen die Menschen bewegen in der letzten Stunde vor dem überraschenden Tod.

POINTS OF HONOR

Musik
Schauspiel
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die Herausforderung des Werks für jeden Regisseur liegt in seiner Handlungsarmut. Das kann die junge Theatergruppe Only ask Valery! nicht schrecken, sich mit dem brisanten Stoff auseinanderzusetzen. Unter der künstlerischen Leitung von Michael Stieleke, der das Grundkonzept entwickelt, erarbeiten die jugendlichen Theatermacher ihre Stücke im Kollektiv, stets beraten von Fachleuten der verschiedenen Metiers. So auch diesmal. Die Bühne in den Kammerspielen des Forums Freies Theater ist in vier Bereiche untergliedert. Die beiden Seitenbühnen sind komplett in schwarz gehalten und mit jeweils zwei hängenden Mikrofonen ausgestattet. Die Hinterbühne ist ebenfalls schwarz und mit einer Projektionsfläche versehen, auf der Julia Franken und Cecilia Gläsker Lebensstrecken, Sehnsuchts-, aber auch Einsamkeitsorte zeigen. Die Hauptbühne ist mit weißem Boden ausgelegt, der die immer wieder aufgleißenden Schlaglichter besonders stark hervorhebt. Überhaupt setzt Stefan Heitz beim Licht auf einfache, aber reizvolle Mittel und vermeidet gleichzeitig sensationsheischende Effekte. Die Länge der Aufführung ist mit einer Stunde recht kurz bemessen. So muss sich die Choreografie von Constantin Hochkeppel auf zwei bis drei Einsätze beschränken. Auch die Musik kommt mit nur einem Lied ein bisschen mager daher. Bei dem tänzerischen Engagement, dass die Darsteller zeigen, wäre da sicher mehr möglich gewesen und hätte die Monologwechsel auflockern können. Aber Stieleke setzt auf Verdichtung bis hin zur Überschneidung, um die Dramatik der Texte, die ohnehin schon sehr stark sind, noch zu steigern.

So wenig Handlung die Inszenierung oder das Stück hergeben, die die Darsteller mit zeitlupenähnlichen Abläufen überbrücken, so anspruchsvoll sind Texte und Einsätze. Was die Jungdarsteller hier an Professionalität aufbieten, ist à la bonne heure. Versprecher oder Aussetzer sucht man hier vergebens. Im Vergleich besonders eindrucksvoll ist Sophie van den Berg, die für Anna Bachmann als Katrina eingesprungen ist. Katrina kommt mit ihren Gefühlen und der häuslichen Situation nicht zurecht. Sie reagiert darauf mit Aggression und „panzert“ sich mit einem Tattoo. Auch wenn van den Berg die Konzentration bis in die Haarspitzen anzumerken ist, kann sie die Rolle komplett ausfüllen. Berthier hat als „Streber“ keinen Stich bei den Mädchen und spielt deshalb gerne mal den Blinden. Anton Hipp hat das richtig gut drauf, so dass am Ende sogar noch eine hübsche Liebesgeschichte mit Katrina drin ist. Richard Kreutz übernimmt François, den Mädchenschwarm, der sich in eine 77-Jährige verliebt. Dass das nicht ohne – innere – Konflikte vonstattengeht, versteht sich von selbst. Und Kreutz spielt das wunderbar aus. Fast schon gruselig gut gelingt Laoise Lenders die Rolle der dicken Jade, die mit einer Bandwurmkur für eine von allen begehrte Figur erlangt. Die Nebenwirkungen spielt sie so herrlich beiläufig, dass einem fast schlecht wird.

Richard Kreutz als François – Foto © Klaus Hoffmann

Paquet hat es bei seiner Opferschau nicht bei den Schülern belassen, sondern auch Lehrer und Angehörige des Täters mit einbezogen. Und Ramin Haijat bekommt als frustrierter Deutsch-Lehrer Denis gleich die schwächste Rolle. Außer viel Klischee, das dazu noch wenig überzeugend ist, ist dem Autor nicht eingefallen. Haijat lebt das aber expressiv auf der Bühne aus und kann etliche Lacher für sich verbuchen. Wenig zu lachen gibt es hingegen bei Pascale, der Schwester des Täters, die verzweifelt versucht zu verstehen, was da eigentlich mit ihrem Bruder passiert ist, vor allem, ohne dass die Familie es bemerkt hat. Charlotta de Pinho Rolo muss zudem aufarbeiten, wie die Menschen nach dem Verbrechen mit ihrer Mutter umgehen. Das gelingt ihr mit größter Glaubwürdigkeit. Unwillkürlich beginnt man darüber nachzudenken, ob es wirklich ausreicht, den Vater des Täters an das Fensterkreuz zu nageln, weil dessen Waffenschrank nicht abgeschlossen war. Um rund vierzehn weitere Rollen darzustellen, braucht das Kollektiv nicht mehr als zwei Personen. Maja Marek, der das Spiel sichtlich Spaß bereitet, und Johann Wehrmeister stehen auf den Seitenbühnen und übernehmen das, indem sie in die herabhängenden Mikrofone sprechen. Ein wirklich gelungener Effekt. Um 2 Uhr 14 ist alles vorbei. Der Totentanz ist zu Ende.

Das junge Kollektiv liefert eine auszeichnungswürdige Arbeit ab. Hier ist wirklich alles durchdacht und auf der Bühne gnadenlos gut auf den Punkt gebracht. Das überdurchschnittlich junge Publikum applaudiert begeistert. Paquet ist mit seinem Stück gelungen, was dem Theater oft nachgesagt, aber immer seltener gezeigt wird: Er hat mit ungewöhnlichem Blickwinkel einen wesentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs geleistet. Und in Düsseldorf ist genau das überragend gut umgesetzt worden.

Michael S. Zerban