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La commedia è finita

I PAGLIACCI
(Ruggero Leoncavallo)

Gesehen am
25. Mai 2020
(Stream)

 

Semperoper, Dresden

Mit dem Stream von der Live-Übertragung von Ruggero Leoncavallos Pagliacci von den Salzburger Osterfestspielen 2015 setzt die Sächsische Staatsoper Dresden die Übertragung ihrer Koproduktion fort, nachdem am vergangenen Wochenende schon Mascagnis Cavalleria Rusticana zu sehen war. Wieder ist es Philipp Stölzl, der als Regisseur auch das Bühnenbild gestaltet und genau denselben Ansatz wie schon bei der Cavalleria wählt, nur dass der Effekt hier noch drastischer und lebensechter rüberkommt, also Verismo – abgeleitet aus „il vero“ = das Wahre oder die Wahrheit – pur! Es ist beruhigend zu wissen, dass die Tränen und das Blut, die auf der Bühne vergossen werden, falsch sind, dass die Gefühle nur gespielt sind und die Schmerzen von den Darstellern nicht wirklich durchlitten werden. Die jungen wilden italienischen Komponisten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert wie Mascagni und Leoncavallo wollen aber genau das Gegenteil. Die Zuschauer aufrütteln, sie hineinziehen in den Strudel der Gefühle, sie überrumpeln mit den komischen und tragischen Wendungen, die ihre dem Leben abgeschauten Geschichten nehmen. Zwei Jahre nach der erfolgreichen Uraufführung von Mascagnis Cavalleria Rusticana 1890 setzte Ruggero Leoncavallo mit der Kurzoper Pagliacci und seinem berühmten Prolog den neuen Stil des Verismo fort.
Der gesungene Prolog enthalt das Credo des Verismo: „Der Künstler ist ein Mensch und muss für Menschen schreiben … Wir sind Menschen aus Fleisch und Blut, und wir atmen genauso wie Ihr den Hauch dieser verlorenen Welt.“ Der dialektische Kunstgriff Leoncavallos ist, dass in seiner Geschichte die Tragödie sich gerade deshalb zuspitzt, weil der Darsteller des Canio, also des Bajazzos, Spiel und Realität nicht mehr zu trennen vermag, und auch der Zuschauer soll das durchleben.

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Stölzl wählt wieder eine filmische Erzählweise mit emotionalen Nahaufnahmen und Parallelmontagen wie in der Cavalleria rusticana und siedelt die Oper ebenfalls im Italien der 1920-er Jahre an. Auch in dieser Oper geht es um Liebe, blinde Eifersucht und Hass bis zum Tod. Das Bühnenbild hat sich von der Raumaufteilung in zwei Ebenen mit jeweils drei guckkastenartigen Räumen, die sechs gleichgroße Räume abbilden, die separat geöffnet und geschlossen werden können, nicht verändert. Durch die zusätzlichen Live-Einblendungen im Großformat wirkt die Szenerie wie ein Film mit expressionistischen Materialien. Die Bühnenwände wirken wieder wie gemalt, doch farblich ist es deutlich bunter geworden, passend zum Zirkusmilieu. Durch die Trennung der sechs verschiedenen Räume können parallel Zirkusbühne, Wohnwagen, Zuschauerraum und Hintergrund abgebildet werden. Leoncavallos Wunsch war es, eine größtmögliche Wahrhaftigkeit der Handlung zu erzielen, obwohl er wusste, dass Theater die Wirklichkeit nur abbildet, aber nicht erreichen kann. Mit seiner Raumaufteilung und den großformatigen Videoeinblendungen lässt Stölzl den Zuschauer unmittelbar am Geschehen teilhaben. Durch die geschickte Videoregie von Altmeister Brian Large ist man als Fernsehzuschauer so dicht an einzelnen Szenen dran, wie man es in einem großen Opernhaus selten sein kann. Es fehlt zwar das Live-Erlebnis, was auch nicht ersetzbar ist, aber durch die cineastische Kameraführung ist diese Aufführung großes Kino! Die bunten, etwas überdrehten Kostüme zu diesem Szenar hat wieder Ursula Kudrna gefertigt.

Der Verismo-Stil verlangt von den Darstellern nicht nur eine entsprechende Stimmführung, sondern vor allem Schauspielkunst, die an die Grenze der persönlichen Belastung gehen kann.   Jonas Kaufmann, der in der Cavalleria Rusticana in der Rolle des Turiddu schon geglänzt hat, wächst er als Canio über sich hinaus und gibt sein zweites fulminantes Rollendebüt. Mit tenoraler Strahlkraft meistert er die dramatischen Stellen seiner Rolle, ohne dabei auf Belcanto zu verzichten. Sein Rezitativ und die Arie im ersten Aufzug singt er hochemotional mit einer derartig intensiven Leidenschaft, dass man seine Qual körperlich zu verspüren meint. Sein Gesichtsausdruck, als er sich weiß schminkt und die Lippen blutig rot nachzieht, sein Zittern, als er mit dem Springmesser spielt, seine aggressive Körperspannung, das wirkt, auch dank der großartigen Videoregie so echt, dass man fast Angst um ihn bekommt.

Am Schluss verschwimmen das Spiel auf der Zirkusbühne und die Realität, der Bajazzo ersticht die Colombine, aber es ist Canio, der seine Frau Nedda aus Eifersucht und blinder Rage tötet, um dann mit erstickter Stimme dem Publikum zuzurufen: „La Commedia è finita!“ – Die Komödie ist beendet.

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Viele große Tenöre haben diese Rolle verkörpert. Pavarottis Aufnahme mit dem Schluchzen am Schluss seiner Arie ist anrührend, Domingos Rolle in der Opernverfilmung von Franco Zeffirelli 1981 legendär, aber Kaufmanns Auftritt ist einfach nur gewaltig und explosiv und zeigt seine enorme Vielseitigkeit. Das Publikum dankt es ihm mit stürmischem Jubel. Neben so einem Ausdruckssänger bestehen zu können, ist schon fast ein Ding der Unmöglichkeit. Maria Agresta als Nedda und Colombine gibt an diesem Abend sicher ihr Bestes. Sie legt die Partie sehr dramatisch an, was ihr in den Ausbrüchen doch die eine oder andere Schwierigkeit bereitet, wobei Sie im Duett mit Tonio den impulsiven Charakter der Nedda betonen kann. Ihre Stärke ist die lyrische Ausgestaltung der Rolle, wenn ihr geschmeidiger und heller Sopran zur Geltung kommt, vor allem im Liebesduett mit Silvio. Einen starken Eindruck hinterlässt an diesem Abend der Bariton Dimitri Platanias als Tonio und Taddeo. Mit markanter Stimme und eindrucksvollem Spiel gestaltet er die Partie. Tansel Akzeybek gibt den Beppe mit schönem Spinto-Tenor und lässt als Harlekin optisch Charlie Chaplin wieder auferstehen. Alessio Arduini weiß mit schmeichelndem Bariton als Neddas Liebhaber Silvio zu überzeugen. Der von Jörn Hinnerk Andresen formidabel einstudierte Chor der Sächsischen Staatsoper Dresden, der Bachchor Salzburg sowie der Kinderchor der Salzburger Festspiele und Theater beeindrucken durch ihre Ausdrucksfähigkeit und lebendiges Spiel.

Die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Christian Thielemann spielt den Leoncavallo in ihren dramatischen und musikalisch ergiebigen Feinheiten und schon fast plastisch anmutenden Klanggebilden mit großer Intensität und Leidenschaft, so dass die gut 75 Minuten gefühlt wie im Fluge vergehen. Regisseur Philipp Stölzl und seinem Team ist mit dem Doppelaufführung von Cavalleria Rusticana und Pagliacci ein spannender Verismo-Abend gelungen, der auch Dank der intelligenten und cineastischen Videoregie von Brian Large als Fernsehabend taugt.

Nachdem am 24. April die Entscheidung des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft, Kultur und Tourismus fiel, dass die Sächsischen Staatstheater den Spielbetrieb der Spielzeit 2019/20 einstellen müssen und damit sowohl die Premieren von Puccinis Madama Butterfly als auch Verdis Don Carlo mit dem mit Spannung erwarteten Auftritt von Anna Netrebko der Corona-Pandemie vorläufig zum Opfer fallen, dürfen sich die Freunde der Semperoper auf weitere Übertragungen per Stream freuen.

Die Sächsische Staatsoper Dresden setzt mit einer Ausstrahlung von Verdis Rigoletto aus dem Jahre 2008 in der Regie von Altmeister Nikolaus Lehnhoff und der musikalischen Leitung von Fabio Luisi am kommenden Wochenende ihre Reihe „Semperoper zuhause“ fort.

Andreas H. Hölscher