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Zeitlose Komödie

LE NOZZE DI FIGARO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
18. September 2023
(Premiere am 20. Juni 2015)

 

Semperoper, Dresden

Mozarts Le nozze di Figaro ist eine revolutionäre Komödie, die man im Kontext zur Zeit der Entstehungsgeschichte und der damals vorherrschenden gesellschaftlichen Normen sehen muss. Vorlage zu Mozarts Oper von 1786 war die wenige Jahre zuvor uraufgeführte Komödie La folle journée ou Le mariage de Figaro, die zum größten Bühnenerfolg des Autors Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais wurde. Die bitterböse Satire auf den übergriffigen Adel wurde zum Fanal der Französischen Revolution. Das kongeniale Libretto von Lorenzo Da Ponte spricht zudem Dinge wie Langeweile nach den ersten Ehejahren, Vertrauensbruch und weibliche Selbstbestimmtheit an. Es sind Themen, die damals wie heute aktuell sind und daher das wunderbare Werk zu einer zeitlosen Komödie machen. Im Vordergrund steht das komödiantische Wechselspiel von Verliebtheit und Enttäuschung, von Begierde und Verzweiflung, von Lust und Frust, von Eifersucht und Intrige. Es ist im übertragenen Sinne ein Garten der Gefühle, ein Labyrinth von Irrungen und Wirrungen, aus dem es einen Ausweg gibt. Die Menschlichkeit, die am Schluss siegt und alles zum Guten führt. Doch bis dahin ist es ein weiter und schwieriger Weg mit allerlei komödiantischen Raffinessen.

Graf Almaviva hat sich von seiner Gräfin abgewendet. Sein Objekt der Begierde ist Susanna, die Kammerzofe der Gräfin. Sie wird zum Ziel seiner lüsternen Attacken, während er gleichzeitig seine eigene Frau in rasender Eifersucht in flagranti zu ertappen hofft. Die emotional hoch aufgeladene Situation droht komplett zu entgleiten, da der liebestaumelnde, pubertierende Page Cherubino immer im falschen Moment allen Frauen seine Avancen macht und den Grafen dabei schier zur Verzweiflung treibt. Und Figaro, der vor Kraft strotzende Einfaltspinsel, merkt erst sehr spät, welche Spielchen um ihn herum getrieben werden. Doch am Ende eines „tollen Tages“ lösen sich die Irrungen und Wirrungen, die die Beziehungsgeflechte auf der Gefühlsebene verbinden, in harmonisches Wohlgefallen auf.

Unzählige Regisseure und Bühnenbildner haben sich an dem Werk versucht, mit großem, aber auch mit weniger Erfolg. In Dresden steht nun die Wiederaufnahme der gut acht Jahre alten Inszenierung von Johannes Erath auf dem Programm. Die Semperoper ist erstaunlicherweise nicht ausverkauft, alleine im Parkett bleibt fast ein Viertel der Plätze leer. Nun, ob es an der verspielten Inszenierung liegt, die ohne großen Tiefgang daherkommt, oder an einigen Bearbeitungen von Text und Musik, ist schwer zu beantworten. Erath hat sich für seine Dresdner Figaro-Konzeption von einer sehr freien Interpretation mit Rückbezug auf das Werk von Beaumarchais inspirieren lassen, die weiter greift als nur auf die unmittelbare Vorlage. Für ihn lassen sich nämlich die drei Schauspiele der heute so genannten Figaro-Trilogie von Beaumarchais pointiert gelesen als Verweise auf drei verschiedene Genres verstehen, die jeweils eingebettet sind in historisch unterscheidbare gesellschaftskulturelle Zusammenhänge. Die unterschiedlichen Sichtweisen führen vom Rokoko des 18. Jahrhunderts über die europäischen Revolutionen bis hinein in die heutige Bürgerlichkeit.

Projiziert auf Mozarts Le nozze di Figaro, nutzt er die Bezugnahme auf die Schauspiel-Trilogie von Beaumarchais, indem er den ersten Akt erkennbar als Theater einer längst vergangenen Zeit mit Figuren der Commedia dell’arte realisiert. Susanna und Figaro, Graf und Cherubino, Marcellina und Bartolo spielen in den Kostümen der Commedia dell’arte, und sich selbst dazu noch gegenseitig spiegelnd, eine Bretterbühne auf der Bühne, die die Trickkiste des Theaters im ganz wörtlichen Sinne erfahrbar werden lässt. Mozarts zweiter und dritter Figaro-Akt ist pures Rokoko-Theater, das den Spaß an Intrigen und Täuschung, Sprachwitz und Versteckspiel als revolutionäre Provokation und als Aufmüpfigkeit gegen die ständische Ordnung verdeutlicht. Im vierten Akt lässt Erath in Hinblick auf Beaumarchais’ erahnbare Vorausschau auf das bürgerliche Trauerspiel das Werk in der heutigen Zeit als modernes Regietheater spielen. Und Erath setzt den Sprung durch die Zeiten konsequent durch, auch wenn dadurch die an sich schon komplizierte und verwirrende Handlung noch etwas konfuser wirkt. Zusammen mit Bühnenbildnerin Katrin Connan und Kostümbildnerin Birgit Wentsch spielt Erath mit Zeit und Raum. Zu Beginn ist das Stück noch ein reines Maskenspiel, eine Harlekinade einander gleichender Figuren, die durch immer wieder ins Bild kommende Bühnenarbeiter in Szene gesetzt werden. Ohne die wunderbare Musik käme wohl keiner auf den Gedanken, dass es sich hier um Mozarts Figaro handelt, auch wenn der schon mal zum Rasierpinsel und Schaum greift, und Cherubino im wahrsten Sinne des Wortes ordentlich einseift, ein herrlich komischer Auftakt. Ein hochfahrbarer Barbierstuhl ist das einzige Requisit in der Bretterbühne, dem Theater im Theater.

Beim Wechsel in die Zeit des Rokoko im zweiten Aufzug entwickelt sich die Komödie zu einer äußerst verspielten Inszenierung, in der die Kostüme und die Kulissen nach Belieben ausgetauscht werden. Da wird per Fingerschnipp das Bild angehalten, während die Szene weiterläuft, und dann wieder eingeschaltet wie mit Hilfe einer Fernbedienung. Das sind witzige Regiegags, die aus einer alten Oper ein modernes Format machen. Im vierten Akt, angekommen in der heutigen Zeit, schlägt die Stimmung allerdings um. Das Ganze entpuppt sich als „Pyjama-Party“, und Graf und Figaro in Unterwäsche und Badelatschen sind nicht wirklich prickelnd. Es ist, als ob Erath bei seinem Regiekonzept am Schluss die Puste ausgegangen sei. So erfrischend herrlich und komisch das Stück begonnen hat, so trist und langweilig endet es am Schluss. Und jemand, der das Stück zum ersten Mal sieht, blickt nun gar nicht mehr durch. Das ist schade, denn von den Kostümen und vom Setting her hat das Stück ganz stark begonnen. Doch was ihm fehlt, ist der Tiefgang, die besondere Charakterisierung der einzelnen Figuren und ihrer Beziehungsebenen untereinander. Bei Erath sind die Figuren quasi austauschbar. Das ist eine zu oberflächliche Beleuchtung des wunderbaren Werkes.

Dafür ist es aber der Abend eines großartigen Sängerensembles, der die Aufführung dann doch wieder zu einem besonderen Moment werden lässt. Nikola Hillebrand als Susanna ist die Hauptfigur, um die sich alles dreht. Sie erträgt geduldig die sexuellen Avancen des Grafen und von Cherubino und lenkt das Spiel von Begierde und Zurückweisung geschickt bis hin zum großen Finale. Mal trotzig wütend, wenn sie Figaro ohrfeigt, mal sinnlich erotisch mit dem Grafen flirtend, dann wieder liebevoll entrückt, wenn sie an den Geliebten denkt. Ihre schlank geführte lyrische Sopranstimme kommt vor allem in der großen Rosen-Arie Deh, vieni, non tadar, oh gioia bella im vierten Akt zur Geltung, die sie mit großer Innigkeit und Wohlklang gestaltet. Die Höhen, im zarten Piano verträumt gesungen, berühren tiefe Gefühle. Michael Nagl gibt den Figaro in Spiel und Gesang als kraftvollen, manchmal etwas plumpen Bräutigam. Er will das Heft des Handelns in der Hand halten wie in seiner großen Tanz-Arie Se vuol ballare, Signor Contino, die er markant gestaltet, ohne zu bemerken, dass sowohl der Graf als auch seine Susanna ihn manipulativ beeinflussen. Dramatisch menschlich seine Arie Aprite un po‘ quegli occhi zu Beginn des vierten Aktes, die er mit großer Intensität singt und seinen markanten Bassbariton zur vollen Entfaltung bringt.

Christoph Pohl als Graf Almaviva ist mit seiner Grandezza optisch wie stimmlich eine Idealbesetzung, der die Partie schon sehr oft gesungen hat, so auch bei der Premiere 2015. Er ist ein draufgängerischer und sehr temperamentvoller Verführer, dem man seine schmeichelnden Liebesschwüre wie auch seine rasende Eifersucht abnimmt. Sein galanter Bariton entfaltet sich besonders wuchtig in der großen Entbehrungsarie Vedrò mentr’io sospiro, felice un servo mio im dritten Akt, in dem er sich dramatisch in Rachefantasien ergibt. Sein ausdrucksstärkster Moment ist zweifelslos die finale Szene, in der er seine Gräfin um Verzeihung bittet: Contessa, perdono.  Elena Gorshunova überzeugt als Gräfin Almaviva als eine in der Liebe vernachlässigte und in ihrem Gefühlsleben gekränkte, ja, verwundete Frau, die zu Recht um die anhaltende Liebe und Begierde ihres Gemahls bangt. Berückend die leise, lyrische und innige Interpretation ihrer Auftrittsarie im zweiten Akt Porgi, amor, qualche ristoro, in der sie den Tod herbeisehnt, wenn die Liebe nicht zurückkehrt. Doch sie kann auch leidenschaftlich klagen und Dramatik in die Stimme legen, wie im großen Rezitativ und der Arie im dritten Akt E Susanna non vien … Dove sono i bei momenti.

Cecilia Molinarials Cherubino überzeugt als lüsterner, pubertierender Page, vor dem kein Rockzipfel sicher ist. Ihr jugendlich klingender Mezzosopran besticht mit Intensität und Durchschlagkraft. Wärme und Gefühl, Irrung und Wirrung legt sie stimmlich akzentuiert in die beiden Arien Non sò più cosa son, cosa faccio und Voi, che sapete che cosa è amor. Michal Doron verleiht mit ihrem warmen Mezzosopran und ihrer Spielfreude der Rolle der Marcellina eine besondere Note. Wunderbar passend dazu der Bass Georg Zeppenfeld als Don Bartolo, der seiner rachsüchtigen Auftrittsarie La vendetta ein markantes Profil verleiht. Zeppenfeld, der diesen Sommer in Bayreuth wieder als Gurnemanz, Daland, Hunding und König Marke begeistert hat, ist in dieser Aufführung eine Luxusbesetzung und zeigt, dass er neben dem „schweren“ Wagner-Fach auch die italienische Komödie beherrscht. Tahnee Niboro verleiht der Figur Barbarina mit hellem Sopran und ausdrucksstarkem Spiel einen besonderen Charakter. Simeon Esper als Basilio, Gerald Hupach als Don Curzio und Anton Beliaev als Antonio reihen sich sängerisch und schauspielerisch nahtlos in das großartige Sängerensemble ein.

Der Chor der Semperoper Dresden, einstudiert von Jonathan Becker, ist stimmlich und darstellerisch gut präsent. Die Sächsische Staatskapelle unter der Leitung von Gaetano d’Espinosa spielt einen schlanken und dennoch intensiven Mozart. Schon die Ouvertüre, schwungvoll und dynamisch, erzählt von den Wirren eines verrückten Tages, dessen Ende sich musikalisch früh erahnen lässt. Dass einige Rezitative gestrichen sind, es dafür Sprechtext gibt, verwirrt allerdings. Und das Lied La vie en rose, einst von der großen Edith Piaf großartig interpretiert, hat hier als Akkordeoneinlage nun gar nichts verloren.  Am Schluss gibt es von dem trotzdem begeisterten Publikum in der Semperoper großen Jubel für ein spielerisch und sängerisch überzeugendes Ensemble und eine bestens aufgelegte Staatskapelle. Die Inszenierung steht bis zum Ende der Spielzeit noch siebenmal auf dem Programm.

Andreas H. Hölscher