O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ludwig Olah

Aktuelle Aufführungen

Die Bedeutung von Kunst für unser Leben

DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG
(Richard Wagner)

Besuch am
26. Januar 2020
(Premiere)

 

Semperoper Dresden

Kaum ein anderes Werk in der Opernliteratur ist politisch so belastet wie Wagners Meistersinger von Nürnberg aus dem Jahre 1868, und kaum ein anderes Werk ist so häufig als Zielscheibe geschichtlicher Aufarbeitung durch Regisseure benutzt worden wie eben dieses Werk, leider oft unter Verkennung der ursprünglichen historischen und musikalischen Interpretation. Die wunderbare musikalische Komödie spielt im mittelalterlichen Nürnberg, wo sich der verwitwete Schuster Hans Sachs, der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser und der junge, adelige Draufgänger Walther von Stolzing singend, dichtend und auch prügelnd um Eva streiten. Warum? Weil der Goldschmied Pogner seine begehrte Tochter als Preis im jährlichen Sängerwettbewerb ausgeschrieben hat, um deutlich zu machen, wie wichtig ihm die Kunst ist. Und so werden Die Meistersinger von Nürnberg zu einem musikalischen Meisterwerk, das die Frage nach der Bedeutung von Kunst – hier der Musik – für unser Leben und die Gesellschaft stellt. Für Regisseur Jens-Daniel Herzog, hauptberuflich derzeitiger Staatsintendant in Nürnberg, Grund genug, den musikalisch-komödiantischen Diskurs über Kunst und Leben in unser Heute und direkt in die Welt des Theaters und der Oper zu verlegen. Dabei beginnt es ganz klassisch, so meint man. Die erste Szene in der mittelalterlichen Katharinen-Kirche, mit einem Chor in historischen Kostümen, ganz konventionell. Doch eben nur auf den ersten Blick. Die Stuhlreihen davor und Zuschauer in heutiger Kleidung lösen das Rätsel sehr schnell auf. Als Theater im Theater inszeniert Herzog die Meistersinger von Nürnberg, das ist nicht unbedingt neu oder originell und wirkt vordergründig etwas beliebig. Man sieht Proszeniumslogen und ein festliches Bühnenportal, quasi die Spiegelung des vorderen Bereits des Zuschauerraums   der Dresdner Semperoper auf die Hinterbühne, und eine Drehbühne mit zweitem Vorhang. Schnell wird klar, es ist eine Bühne auf der Bühne, die eine Probe zu den Meistersingern zeigt.

Jens-Daniel Herzog und sein Regieteam richten den Hauptfokus nicht auf die politische Auseinandersetzung, insbesondere mit der deutschen Vergangenheit, sondern auf die heutige Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne. Sie zeigen die vielen Facetten eines Theaterbetriebes, auch als Schmelzpunkt der vielen Handwerksberufe im Theater. Die Festwiesenszene wird quasi zur Meisterfeier der Innungen, und das Theater ist das letzte Refugium all dieser Handwerker. Für Herzog ist das Theater selbst Sinn- und Abbild der Gesellschaft mit all ihren widersprüchlichen Interessen und Lebenssituationen.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Hans Sachs selbst ist der Regisseur, sein Lehrbube David so etwas wie der Chef der Bühnenarbeiter, und Veit Pogner ist der Hauptsponsor, der das Geschehen erst ermöglicht. Der Regieansatz von Jens-Daniel Herzog ist interessant, zumal er sich völlig frei macht von irgendwelchen politischen Deutungsabsichten, sondern sich ganz auf die Bedeutung der Kunst fokussiert, durchaus mit einem Augenzwinkern und teilweise mit viel Witz und Situationskomik, manchmal aber auch überzogen und am eigentlichen Stoff vorbei. Die in der Wagner-Interpretation verbreitete Auffassung, die Charaktere in den Meistersingern seien aufgrund ihrer kleinen Fehler, ihres Spießertums und ihres Hanges zum Bloßstellen der anderen so besonders glaubwürdig und menschlich, greift Herzog gerne auf. Ihr erster Auftritt in der Singschule mit Sektgläsern und Canapés, schon etwas dekadent für die Handwerkermeister. Stolzing dagegen kehrt seine adelige Herkunft unter den Tisch und erscheint in zünftiger Zimmermannsmontur, wie ein Gesell auf der Walz. Unter dem Plakat „Unsere Meistersinger 2020“ sind großformatig die Porträts der versammelten Meistersinger abgebildet, da wird schon ein richtiger Personenkult veranstaltet, während sich Walther von Stolzing „backstage“ erst einmal stärkt.  Während David versucht, dem Stolzing die Regeln des Meistergesangs nahe zu bringen, wird das Bühnenbild der Katharinenkirche im Hintergrund eingerollt, das hat schon etwas von Desillusion, und auf der Hinterbühne probt der Chor einen Tanz.

Foto © Ludwig Olah

Eine Drehbühne, ein mit Büchern vollgestopftes Intendantenbüro, wo Sachs als solcher residiert, gesponsert vom Juwelier Pogner, und ein Kostümbereich im zweiten Stock, wo auch immer wieder Parallelhandlungen stattfinden. Während der Konflikt zwischen Sachs und Eva aufbricht mit dem wunderbaren Tristan-Zitat, versteckt sich Fritz Kothner oben in der Maske, weil er ein Techtelmechtel mit der Maskenbildnerin hat, die derweil Walther von Stolzing – oder Klaus Florian Vogt – auf den nächsten Auftritt vorbereitet. Es ist ein Mikrokosmos, dieses Bühnenbild von Mathis Neidhardt. Aber auch eine Schusterwerkstatt taucht plötzlich doch noch auf und gibt den klassischen Rahmen für die Szene Sachs – Beckmesser, die sich zu einer modernen Comedy-Show zweier Exzentriker entwickelt. Bei Herzog steht die Geschichte um den Stadtschreiber Sixtus Beckmesser im Vordergrund, und er zeigt sie als Tragödie einer Selbstdemontage. Sein Werben um Eva und sein übersteigerter künstlerischer Ehrgeiz werden ihm dabei zum Verhängnis. Dabei wird er als Mensch von hoher Autorität und Intelligenz grausam abgestraft. Das wird besonders deutlich, wenn Stolzing seine „Freiung“ versungen hat und er voller Wut den Merker Beckmesser an den Ohren hinter dem Vorhang auf die Vorderbühne zerrt.

Herzog hat mit diesem Theater im Theater eine Umgebung geschaffen, indem die Auseinandersetzung mit der festgelegten Meisterkunst als eigentlicher Konflikt im Vordergrund steht, und der junge, revolutionäre Walther von Stolzing hier die etablierte, in alten Wertevorstellungen und Regeln behaftete Meistergilde kräftig durcheinander wirbelt. Voller Hass und Wut auf die etablierte Meistergilde zerstört er einige der Porträtfotos der Meistersinger, auch das von Evas Vater Veit Pogner. Lediglich Hans Sachs, als Poet selbst ein Freigeist, sieht in dem Junker seine längst vergessene junge Seite und unterstützt ihn fast väterlich. Großartig gelungen die Prügelszene am Ende des zweiten Aufzugs, da gehen David und Beckmesser schon sehr heftig aufeinander los, Beckmesser beißt dem David in Mike-Tyson-Manier kräftig ins Ohr und scheint so verwirrt zu sein, dass er mehrere Evas im selben Gewand auf der Bühne sieht, die ihn scheinbar verführen wollen. Dass der Nachtwächter in der Uniform eines Theaterfeuerwehrmannes erscheint, passt zum Theatermikrokosmos der Inszenierung.

Im dritten Aufzug zeigt Hans Sachs seine große menschliche Seite, wenn er mit Stolzing das Preislied einstudiert. Die beiden sitzen auf der Probebühne, an der Wand die Skizze des „Wunderbaumes“, den sich Stolzing in seinem Lied erträumt und der zur Festwiesenszene während des „Wach auf!“-Chors als wirklicher großer Baum von der Decke heruntergelassen wird. Musikalisch, aber auch szenisch gelingt das Quintett über die „selige Morgentraumdeutweise“ zu einem der ganz großen Momente der Aufführung. Die Festwiesenszene ist ein fulminanter Showdown der Handwerkerzünfte, lebendig und selbstbewusst. Der Tanz der Bühnenarbeiter hat schon etwas Urkomisches an sich; Herzog wandelt in der Festwiesenszene auf einem schmalen Grat und muss aufpassen, dass die Komik nicht in Kitsch abdriftet. Das Volk und die Meister treten in modernen Gewändern auf, letztere auf der Festwiese im Smoking. Lediglich Hans Sachs nimmt hier wieder eine Sonderstellung ein, er erscheint im edlen Frack. Die Kostüme hat Sibylle Gädeke entworfen.

Das Preislied singt Walther von Stolzing mit Dinnerjacket und offener Fliege, und erhält als Preis nicht nur Eva, sondern ein eigenes Meisterporträt aus der Hand von Veit Pogner. Nun ist Stolzing auch ein Meistersinger 2020. Doch genau zu dieser Gesellschaft will er nicht gehören und verweigert die Annahme des Bildes, was Hans Sachs zu seiner großen Schlussansprache führt, die er vor geschlossenem Vorhang singt, quasi als direkte Mahnung an Stolzing. Als der Vorhang sich wieder öffnet, ist es Eva, die das Dilemma löst, indem sie selbst das Meisterporträt von Stolzing zerstört und mit ihm verschwindet, was einen fassungslosen Hans Sachs zurücklässt, der mit einem finalen Lachanfall das ganze Pathos des Schlussgesangs des Chores ad absurdum führt, ein durchaus beeindruckendes wie zwiespältiges Schlussbild.

Foto © Ludwig Olah

Sängerisch und musikalisch darf man diesen Abend auch höchst meisterlich nennen. Allen voran Georg Zeppenfeld als Hans Sachs. Sein sonorer und geschmeidiger hoher Bass verleihen diesem Charakter Wärme und Ausdruck, aber er kann auch forcieren und den Sachs mit Ecken und Kanten singen. Während er den Fliedermonolog im zweiten Aufzug sehr lyrisch und gefühlsbetont anlegt, mit Klavierauszug in der Hand und einer langen Generalpause vor Dem Vogel, der heut sang …, gelingt der Wahnmonolog im dritten Aufzug als charismatischer Ausbruch, mit einem wunderbarten Ritardando.  Und in seiner Schlussansprache brechen alle Emotionen aus ihm heraus, fast schon aggressiv reagiert er auf die Weigerung Stolzings, die Meisterehre anzunehmen. Hervorzuheben ist auch seine beeindruckende Textverständlichkeit. Zeppenfeld steht als Sänger und Charakter für einen modernen Hans Sachs, der trotz aller Innovationen auf Tugendwerte nicht verzichten will. Klaus Florian Vogt singt die Partie des Walther von Stolzing mit großer Eleganz und einem mittlerweile schon fast edlen Tenor, der stilistisch sicher ist und Strahlkraft in den Höhen versprüht. Ganz lyrisch singt er das Preislied, diese Rolle hat Vogt mittlerweile verinnerlicht. Camilla Nylunds Eva ist lyrisch angelegt, mit ausdrucksstarken und ins jugendlich-dramatische Fach reichende Ausbrüche und reinen und ungebrochenen Spitzentönen. Beim wunderbaren Quintett im dritten Aufzug ragt sie stimmlich heraus. Sebastian Kohlhepp debütierte im vergangenen Jahr bei den Osterfestspielen in Salzburg als David, und auch bei dieser Premiere wird sein Auftritt zu Recht umjubelt. Sein schöner lyrischer Tenor besitzt die notwendige Durchschlagskraft und zeigt schon, dass sein Weg irgendwann Richtung Heldentenor gehen wird, wenn er sorgsam mit seinem Stimmmaterial umgeht. Christa Mayer ist mit ihrem wagnererprobtem, dramatischem Mezzo-Sopran als Magdalene fast schon eine Luxusbesetzung, gestaltet die Partie aber stimmlich eher zurückhaltend. Alle fünf Stimmen, so unterschiedlich sie in ihrer Ausprägung angelegt sind, mischen sich nach einer Generalpause im großen Quintett Die selige Morgentraumdeutweise im dritten Aufzug zu einer anrührenden Harmonie, die neben dem Preislied des Walter von Stolzing und der Schlussansprache des Hans Sachs zum musikalischen Höhepunkt wird.

Adrian Eröd gibt den Sixtus Beckmesser mit wohltönendem Bariton und couragiertem Spiel und begeistert mit komödiantisch vorgetragener Pedanterie. Und irgendwie hat man fast schon Mitleid mit diesem Charakter, der in der Riege der Meistersinger ein Außenseiter ist. Vitalij Kowaljow lässt stimmgewaltig seinen edlen Bass als Veit Pogner erklingen und überzeugt auch durch seine Textverständlichkeit. Die Meistersinger singen ihre Partien individuell charakterisierend auf hohem Niveau, unter denen Oliver Zwarg als Fritz Kothner herausragt. Alexander Kiechle gibt den Nachtwächter mit jugendlichem Bass.

Der sächsische Staatsopernchor Dresden ist von Jan Hoffmann hervorragend eingestimmt und gefällt durch große Harmonie und Spielfreude. Der „Wach auf!“-Chor im dritten Aufzug sei hier exemplarisch genannt.

Die Sächsische Staatskapelle Dresden begeistert durch eine beeindruckende Klangmalerei, aus der die Bläser dominant sauber hervorstechen. Ist das Vorspiel zum ersten Aufzug kraftvoll und dynamisch, so erklingt das Vorspiel zum dritten Aufzug zart und fast melancholisch. Am Pult steht mit Christian Thielemann einer der großen Wagnerdirigenten unserer Zeit. Und dass die Meistersinger sein erklärtes Lieblingsstück sind, das zeigt er deutlich an diesem Abend. Er führt die Orchestermusiker mit klarem, aber minimalem Gestus durch die Partie. Er wechselt immer wieder klug die Tempi und trägt die Sänger, besonders im großen Quintett. Die Ouvertüre kommt machtvoll, mit viel Drive und einem wunderbaren Übergang zur ersten Szene. Es ist faszinierend zu sehen und zu hören, mit welcher Klangästhetik, mit welchem Kosmos an Schattierungen und Farben, mit welcher Durchsichtigkeit bis ins kleinste Detail und mit welch großer Eleganz, trotz fallweiser recht breiter Tempi, dieses Werk von der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann interpretiert wird. Er spielt mit sekundenlangen Generalpausen, die die Spannung bis ins Unerträgliche erhöhen und dem Zuschauer fast den Atem nehmen.

Das Dresdner Publikum honoriert die Gesamtleistung mit großem Beifall, insbesondere Georg Zeppenfeld, Klaus Florian Vogt und Christian Thielemann werden umjubelt, wohingegen das Regieteam doch mehr Buhs als bravi einzustecken hat. Herzogs nonchalante Art der Interpretation hat vielen nicht gefallen, dennoch steht das Publikum am Schluss geschlossen auf. Jens-Daniel Herzog hat für seine Interpretation des Theaters im Theater sicher einen interessanten und teilweise auch witzigen Regieansatz gewählt, der leider nicht an allen Stellen aufgeht, weil es auch der Text einfach nicht zulässt, und manchmal bleibt er in seinen Ansätzen stecken und geht den Weg nicht konsequent weiter. Dennoch ist seine Darstellung der Meistersinger von Nürnberg als ein besonderes Kunstwerk ohne die sonst üblichen reflexartigen Hinweise auf den politischen Missbrauch durch die Nationalsozialisten hervorzuheben. Die Inszenierung wurde schon im vergangenen Jahr bei den Salzburger Osterfestspielen als Koproduktion mit der Semperoper Dresden sehr kontrovers diskutiert, und es bleibt abzuwarten, wie das japanische Publikum diese Inszenierung aufnehmen wird, denn von Dresden geht sie nach Tokio an das Bunka Kaikan und an das New National Theatre. In Dresden sorgt die Inszenierung in den Pausen und nach der Vorstellung für reichlich Gesprächsstoff.

Andreas H. Hölscher