O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

Die Macht des Bösen

DER FREISCHÜTZ
(Carl Maria von Weber)

Gesehen am
6. Juni 2020
(Video on demand)

 

Semperoper, Dresden

Carl Maria von Webers Der Freischütz gehört, wenn auch in Berlin uraufgeführt, zu Dresden wie kaum eine andere Oper. Weber war in Dresden zehn Jahre lang Operndirektor. Während seiner Sommeraufenthalte in Hosterwitz – damals bei Dresden, jetzt eingemeindet – soll ihm ein Bauer in einem nahegelegenen Gasthof, wo er gelegentlich sein Bierchen trank, die Geschichte vom Freischütz und den Freikugeln erzählt haben. Möglicherweise lieferten auch die auf den Gerichtsakten der böhmischen Stadt Taus basierenden und 1730 gedruckten „Unterredungen von dem Reiche der Geister“, worauf die Verortung der Handlung nach Böhmen schließen lässt. In der romantisch gelegenen kleinen Fischerkirche zu Hosterwitz, wo Weber während eben dieser Sommeraufenthalte die Gottesdienste besuchte, sollen ihn zwei ältere Damen, die völlig falsch in den Gemeindegesang einstimmten, zur Musik des „Jungfernkranzes“ inspiriert haben. Nicht zuletzt siedelte Weber seine Oper gedanklich in der wild-romantischen Landschaft der nahen Böhmisch-Sächsischen Schweiz im Elbsandsteingebirge und die „Wolfsschlucht“ in der Nähe des darin gelegenen Kurortes Rathen an, wo es heute noch Freilichtaufführungen dieses Werkes gibt.

Seine Wurzeln hat der Freischütz jedoch in Leipzig. 1810 erschien hier die gleichnamige Novelle von August Apel, der mit dem späteren Librettisten der Oper, Johann Friedrich Kind die Leipziger Thomasschule besuchte. 1816 lernte Kind dann den Komponisten Carl Maria von Weber kennen, und der Grundstein für die erste große deutsche romantische Oper wurde gelegt. In dem Werk, das 1821 mit großem Erfolg uraufgeführt wurde, manifestieren sich die Ängste und Sehnsüchte einer ganzen Generation. Ursprünglich war die Geschichte in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg angelegt. Geplant war die Uraufführung jedoch für die Zeit nach der Völkerschlacht, doch die damalige Zensur verhinderte das.

Die gezeigte Inszenierung von 2015 ist eine Jubiläumsinszenierung. 30 Jahre zuvor, nämlich am 13. Februar 1985, war am 40. Jahrestag der Bombardierung von Dresden und der damit einhergehenden Zerstörung der Semperoper die wiederaufgebaute Sächsische Staatsoper Dresden feierlich mit einer Aufführung des Freischütz in der Inszenierung von Joachim Herz wiedereröffnet worden. Die Oper war das letzte Werk, das die Semperoper zeigte, bevor am 31. August 1944 auf Befehl der Nazis überall die Vorhänge für den Rest des „Tausendjährigen Reiches“ fielen. Die Übertragung am 13. Februar 1985 sowohl im DDR-Fernsehen als auch in der ARD war auch ein Stück deutsch-deutscher Geschichte. Als der Rezensent als junger Student gemeinsam mit seinem Vater die glanzvolle Aufführung des Freischütz zur Wiedereröffnung der „Dritten Semperoper“ sah, bewegte uns als Westdeutsche die Frage, ob wir jemals eine Aufführung in diesem wunderbaren Hause erleben werden würden. Zu diesem Zeitpunkt konnte keiner ahnen, dass nur gut fünf Jahre später die Mauer fiele, die Wiedervereinigung bevorstand und einem Besuch der Sächsischen Staatsoper Dresden nichts mehr im Wege stand.

In dieser nach wie vor aktuellen Inszenierung verortet Regisseur Axel Köhler, der übrigens seit Beginn des Studienjahres 2019/2020 Rektor der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden ist, die Geschichte um den Jägersburschen Max, seiner Verlobten Agathe und den zwielichtigen Kaspar in die Zeit nach dem Kriegsende, nach totaler Zerstörung. Es ist eine Welt, in der Aberglaube und menschliche Abgründe und Schrecklichkeiten wieder möglich sind. Köhler stellt Ängste und Aberglauben der Figuren in den Vordergrund, die sich in ihrem Handeln vom Glauben an Gott und Teufel beeinflussen lassen. Er beschreibt eine bürgerliche Gesellschaft mit bürgerlichen Idealen, unter deren Dekoration das Grauen lauert. Eine Gesellschaft, die durch den Einbruch des Aberglaubens und der Angst vor dem Bösen einen Rückschritt erleidet. Die Romantik des Freischütz wird auf verschiedenen Ebenen betont: In der Naturromantik des Jägerlebens, der Liebesromantik zwischen Agathe und Max und der Schauerromantik der Samiel-Handlung, dabei ist dem Regisseur ein ausgewogenes Verhältnis von märchenhafter Zauberei und kritischen Gesellschaftsbildern wichtig. Und so zeigt Köhler das Bild einer orientierungslosen Gesellschaft, die in Ritualen und Hierarchien nach Halt sucht. Vor dem vermeintlich glücklichen Ausgang der unheimlichen Geschichte über Versagensängste, gesellschaftliche Zwänge und individuelle Glücksansprüche tun sich Abgründe auf und die Macht des Bösen scheint zu triumphieren. Da ist Max, von dessen traditionellem Probeschuss seine ganze bürgerliche Existenz und sein Liebesglück abhängen und der den alleinigen Ausweg im Pakt mit dem Teufel sieht. Köhler charakterisiert ihn als zweifelnde Persönlichkeit, als einen Außenseiter, der kein heldenhafter Jägersbursche ist, sondern ein gehemmter, verängstigter, ja fast paranoid wirkender Einzelgänger. Den Pakt mit dem Teufel hat Kaspar längst geschlossen, desillusioniert und zerstört von Lebenserfahrungen und Kriegserlebnissen, die einen jungen Menschen überfordern müssen.

Und auch die Max versprochene Agathe muss ebenso wie ihr Bräutigam mit der bangen Frage leben: „Verfiel ich in des Zufalls Hand?“ Daher versucht auch sie verzweifelt, sich nicht völlig den Irrungen und Wirrungen des Schicksals ausgeliefert zu sehen. Sie scheint die einzige zu sein, die realistisch die Situation erfasst und Stärke aus ihrem unerschütterlichen Glauben zieht, während Ännchen mit ihrer naiven, aber stets optimistischen Stimmung den Kontrapunkt setzt.

Das Bühnenbild von Arne Walther zeigt eine kaputte Wand einer alten, wohl durch den Krieg zerstörten Villa statt eines einfachen Forsthauses, die den Blick auf die kahlen Stämme eines Waldes freigibt. Das Haus ist schlicht und altmodisch möbliert. Agathes Schlafzimmer befindet sich über einem düsteren Erdgeschoss, und die Wolfsschlucht wird hier zu einem wirklich schauerlichen Ort, wo nach gelungenem Freikugel-Guss Gestalten aus Not und Tod auftauchen als Erinnerung an die Ereignisse des Krieges, in dem eine mörderische Schlacht an dieser Stelle getobt haben könnte. Gewalt ist allgegenwärtig. Sie beginnt mit einem ziemlich brutalen Kampf zwischen Kilian und Max, bei dem die Bauern gleich mitraufen, und gipfelt in der Wolfsschlucht-Szene, wenn, neben einigen erhängten Leichen, Kaspar mit einem großen Messer einen Kopf vom Rumpf eines Toten abtrennt, bevor er Freikugeln gießen kann. Raffinierte Verschiebungen wie das Auseinanderdriften der beiden Ebenen von Agathe und Max, bevor dieser in die Wolfsschlucht aufbricht, gelungener Einsatz von Bühnentechnik, viel Dampf und ausgiebige Licht- und Schatteneffekte mit Blitzen lassen den Spannungsbogen hochhalten. Fabio Antoci ist für das Lichtdesign verantwortlich. Der Sturm in der Wolfsschlucht tobt bis in die Halle der Villa, wo zu Beginn des dritten Aktes Stühle und Sofa umgeworfen sind und größere Äste auf dem Boden liegen. Die Kostüme von Katharina Weissenborn zeigen ein dörfliches Jägermilieu des frühen 20. Jahrhunderts. Als zusätzliche Charakterstudie wird die stumme Rolle der hinkenden Magd eingeführt. Von Geburt an behindert oder vom Krieg versehrt, tut sie alle schwere Arbeit im Haus, von niemand weiter beachtet, als einmal von Kaspar, der nach derber Männerart in typischer Großtuerei bei ihr als Magd, die den Wein bringt, in üblicher Weise zudringlich wird. Als er, von der Freikugel getroffen, stirbt, wendet sie sich in zaghafter Zuneigung ihm zu und wird als „Sündenbock“ von den Dorfbewohnern davongejagt. Stand auch sie mit Samiel im Bunde? Eine kleine, aber typische Charakterstudie am Rande der Handlung. Am Schluss, nachdem die Musik schon zu Ende ist, übergibt Ottokar einem Kind ein Gewehr und lässt einen Schuss abfeuern. Geht doch alles wieder von vorne los und der Probeschuss wird doch nicht abgeschafft? Köhler lässt mit dieser offenen Frage viel Interpretationsspielraum.

Die Sängerdarsteller leben diese starke Inszenierung, da sie dem Regiekonzept von Axel Köhler uneingeschränkt folgen.  Michael König in der Rolle des Max hat die strahlende Höhe eines Heldentenors, um auch die dramatischen Ausbrüche zu stemmen, ohne dabei auch nur einen Hauch zu wackeln. Spielerisch ist König nicht der jugendliche Draufgänger, mehr der zurückhaltende kopfgesteuerte Analytiker in abgehalfterter Uniform, was sein Spiel manchmal etwas schwerfällig und steif erscheinen lässt. Kongenial grandios sein Widerpart Georg Zeppenfeld als Kaspar. Von seiner Stimmlage mehr der Eremit, zeigt er, wie facettenreich sein Stimmumfang und seine schauspielerische Darbietung ist. Mit unbändiger Kraft tritt er auf, versprüht in seinem schwarzen Partisanenoutfit eine dämonische Aura um sich, und leidet so tief in dieser Rolle, dass man in der Wolfsschlucht-Szene fast Angst um ihn bekommt. Sein hoher Bass hat die richtige Schwärze und Ausdruckskraft, die diese Partie abverlangt. Ganz klar eine Idealbesetzung dieser Rolle, am Schluss vom Publikum stürmisch gefeiert. Sara Jakubriak gibt die Agathe mehr träumerisch und schwermütig und überzeugt vor allem mit zarten Piano-Tönen in ihrer großen Arie, während sie spielerisch insgesamt etwas blass bleibt. Ganz anders das Ännchen von Christina Landshamer, die vor Energie und Spielwitz nur so sprüht und mit ihrem schlanken Sopran beim Publikum groß abräumt. Andreas Bauers später Auftritt als Eremit, auch er mit zerschlissenem Miltärmantel, ist wie eine Erscheinung. Schon seine dominante physische Ausstrahlung ist bezeichnend, und sein großer balsamischer Bass macht die Eremitenszene zu einem besonderen musikalischen Ereignis. Adrian Eröd gibt den Ottokar im schwarzen Militärmantel mit aristokratischer Noblesse und Arroganz, seine Unterordnung unter den Willen des Eremiten ist blasiert gespielt. Albert Dohmen als Kuno und Sebastian Wartig als Kilian runden das großartige Sängerensemble ab. Die Stimme des Samiel dröhnt in der Wolfsschlucht snobistisch überheblich, ja fast gelangweilt aus dem Lautsprecher, wie bei einer Ansage an einem Bahnsteig, weniger Furcht einflößend, aber mit abwechslungsreichen Echo-Varianten nach jeder gegossenen Freikugel.

Der Sächsische Staatsopernchor Dresden ist mit viel Spielwitz und Engagement bei der Sache und von Jörn Hinnerk Andresen bestens eingestimmt. Der Jägerchor wird als Feststück für den Fürsten aufgeführt, zu dem Kinder kleine Jagdszenen beisteuern. Grandioser Einfall!

Wieder einmal herausragend an diesem Abend die Sächsische Staatskapelle Dresden unter Ihrem Generalmusikdirektor Christian Thielemann. Schon die ersten Töne der Ouvertüre, langgezogen und düster, lassen das Unheil ahnen, das da kommen wird. Die Leitmotive, soweit man sie so bezeichnen darf, werden dominant herausgearbeitet, und das Tempo erscheint langsam, dafür intensiv und atemberaubend. Thielemann wühlt in den dunklen Tiefen der Partitur und betont das Dämonische in der Musik. Dabei ist sein Schlag präzise, sein Dirigat sängerfreundlich und unprätentiös. Das Publikum spendet großen Applaus, besonders umjubelt werden Georg Zeppenfeld und Christina Landshamer sowie Christian Thielemann, während das Regieteam doch einige Buhrufe einstecken muss.

Andreas H. Hölscher