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Verdis Don Carlo handelt von der zeitlosen Sehnsucht nach persönlicher und politischer Freiheit in einem autoritären Regime. Regisseurin Vera Nemirova belässt Verdis musikalischem Fanal für Gedankenfreiheit seine historische Verortung von Machträson und Staatsreligion, von Bühnenbildnerin Heike Scheele in den überdimensionalen Bücherwänden einer Klosterbibliothek bildgewaltig eingefangen“, heißt es in der Premiereneinladung der Semperoper in Dresden. Ein interessanter Ansatz, der bei tieferer Betrachtung des Werkes durchaus seine Berechtigung hat, und von dem aus Nemirova ihre Interpretation des Werkes entwickelt, das eine Koproduktion mit den Salzburger Osterfestspielen ist. Für das Gesamtverständnis der Inszenierung ist daher ein kleiner Rückblick in die Rezeptionsgeschichte des Werkes notwendig. Giuseppe Verdi und seine Librettisten Joseph Méry und Camille Du Locle greifen auf Friedrich Schillers gleichnamiges Drama zurück und bieten mehr als nur ein Historienspektakel. In seiner wohl düstersten Oper entwirft Verdi eine klaustrophobische Welt, in der Liebe und Gefühl vor dem Hintergrund eines kompromisslosen Machtsystems und fanatischer Religiosität zum Scheitern verurteilt sind. Verdi, der sich zeitlebens gegen menschliche und soziale Ungerechtigkeit engagierte, wird zum Symbol für den Befreiungskampf seiner italienischen Landsleute. In Verdis Oper Don Carlo im Kontext zu Schillers Drama überlagern sich mehrere Zeitebenen, die ein vielschichtiges Bild zeigen. Vom Befreiungskampf der Niederlande über die Zeit der Religionskriege, die Auseinandersetzung zwischen Protestantismus und Katholizismus in der Folge der Reformation. Eine weitere Zeitebene ist das ausgehende 18. Jahrhundert Friedrich Schillers, mit dem die Themen Freiheit und Willkürherrschaft in den Vordergrund rücken. Es ist der Kampf gegen den Absolutismus sowie die Ideen der Aufklärung am Vorabend der Französischen Revolution. Verdi zeigt in dieser Oper die düsteren Abgründe der Seele.
Die letzte Zeitebene ist die des Zuschauers unserer Zeit, die mit autoritären Systemen wieder stärker konfrontiert wird und mit Religionen, die nach wie vor politische Machtansprüche stellen oder politisch instrumentalisiert werden. So ist es schon bei Filippo, in dessen Reich sich die katholische Kirche und die heilige Inquisition mit der Staatsmacht verbünden, um eine totalitäre Herrschaft auszuüben, die nicht nur auf das Leben, sondern auch auf den Geist der Menschen zielt.
Keine andere Oper hat Verdi so häufig redigiert wie Don Carlo, insgesamt erstellte er drei Fassungen. Die französische Urfassung von 1867 umfasst fünf Akte, einschließlich des Fontainebleau-Aktes, der die Vorgeschichte und die Liebe zwischen Don Carlo und Elisabetta beschreibt. 1884 entsteht die vieraktige italienische Version ohne Fontainebleau-Akt, 1887 dann noch einmal die fünfaktige italienische Version. In Dresden erklingt die vieraktige Mailänder Fassung, ein Melodram, in der Verdi die Protagonisten mit unerreichter psychologischer Sensibilität gestaltet. Zwischen Ketzerverbrennung und Erlösung, zwischen Liebe und Tod, Resignation und Hoffnung, zwischen Idealismus und Realismus und zwischen Freundschaft und Verrat spielt dieses Stück. Der spanische Infant Don Carlo steht am Rande der Verzweiflung: Er liebt die französische Königstochter Elisabetta von Valois, die aus politischen Gründen jedoch seinen Vater König Filippo II. heiraten musste, um des lang erhofften Friedens willen zwischen Spanien und Frankreich. Aus der versprochenen Braut wird unversehens Carlos Stiefmutter. Die Liebe bleibt, wird jedoch zu einer verbotenen. Elisabetta spricht es gegenüber Carlos deutlich und klar aus: Für die Liebe gibt es keine Hoffnung mehr, ohne sich zweier Todsünden schuldig zu machen – Vatermord und Mutterehe. Eine ausweglose Situation. Halt findet er hingegen in den humanistischen Ideen seines Jugendfreundes Rodrigo, Marquis von Posa, der Carlo für den Freiheitskampf des von Spanien unterdrückten Flanderns gewinnt. Als der Thronfolger öffentlich gegen die rigorose Machtpolitik seines Vaters rebelliert, kommt es zum Eklat. Vergebens opfert sich Posa für Carlo: Der König überantwortet seinen Sohn dem eigentlichen Machthaber im Land, der Heiligen Inquisition.
Foto © Ludwig Olah
Da Regisseurin Nemirova aber nicht ganz auf die Vorgeschichte zwischen Don Carlo und Elisabetta verzichten möchte, wird dem Werk ein gut zehnminütiger „Prolog“ vorangestellt, der Im Wald Fontainebleaus spielt und die junge Liebe zwischen Elisabetta und Carlo durch zwei Balletttänzer darstellt. Der Wald besteht aus überdimensionierten weißen Blumen, zwischen denen die beiden Königskinder neckisch spielen, ohne zu ahnen, welch grausames Schicksal sie erwarten wird. Eine eingeblendete schwarz-weiße Videoprojektion zeigt Menschen im Wald, wie auf der Flucht oder zu einem Begräbnis. Solche Bilder konnte man während der Flüchtlingskrise immer wieder real erleben. Die Musik für diesen Prolog komponierte Manfred Trojahn, die Choreografie gestaltete Altea Garrido.
Trojahns Musik ist inspiriert von Verdi, kommt mächtig daher, wandelt sich in eine düstere, bedrohliche Tonlage und ähnelt in Teilen einem Requiem, das nahtlos in Verdis Oper übergeht. Trojahn stellt mit seinem Prolog einen musikalischen Raum für die kurze Utopie des Glücks der beiden Königskinder her, ohne direkt die äußere Handlung des Fontainebleau-Aktes zu erzählen. Am Schluss des Prologes erscheinen französische Höflinge auf der Bühne und trennen die Liebenden gewaltsam. Ein interessantes Experiment, das man durchaus als gelungen bezeichnen darf, sowohl musikalisch als auch inhaltlich.
Nemirova zeichnet in ihrer Inszenierung ein kafkaeskes Labyrinth der Zwänge, das unweigerlich in die Katastrophe führt – Freiheit heißt letztlich nur der Tod. Neben den skizzierten Zeitebenen sind es die unterschiedlichen Protagonisten- und Personengeflechte, die die Regisseurin subtil herausarbeitet. Don Carlo ist kein Held, eher ein schwacher, emotionaler Antiheld. Er schafft es trotz aller guten Absichten nicht, sich der starken Hand seines autoritären und kompromisslosen Vaters zu entziehen. Innere Zerrissenheit und die Trauer über seine verlorene Liebe bestimmen sein Dasein. Anders sein Freund Rodrigo, Marquis von Posa. Er ist ein Diplomat, der die Dinge zu seinen Gunsten zu richten versucht, ein eleganter Gentleman und kühner Stratege, der immer die Rettung Flanderns vor Augen hat. Als Vertrauter des Königs verrät er seinen Freund, um sich am Ende vergebens für ihn zu opfern. Die Beziehung zwischen den beiden geht über eine normale Freundschaft hinaus, entwickelt sich hin zum Verrat, der am Ende beide das Leben kosten wird. Dazwischen Elisabetta, die sich ihrer Rolle gefügt hat, obwohl ihre Gefühle für Carlos unverändert sind. Über allen thronend und drohend ragt König Filippo, der hinter dem Mantel der Stärke und Rücksichtslosigkeit schwach und einsam ist, der sich nach einem Vertrauten sehnt. Filippos große Arie zu Beginn des dritten Aufzuges: Ella giammai m’amo – Sie hat mich nicht geliebt – zeigt sein ganzes Gefühlsleben. Hass und Vernichtung finden genau dort statt, wo die Liebe fehlt, nicht die fordernde, sondern die gebende. Der eigentliche Herrscher im System ist der Großinquisitor, der die Macht in den Händen hält und auch nicht davor zurückschreckte, den König selbst der Inquisition zuzuführen. Bleibt die Prinzessin Eboli, die aus enttäuschter Liebe zur Rachefurie wird, um am Ende geläutert ihr Schicksal anzunehmen. Dieses Personenkonstrukt in Verdis Oper nutzt Nemirova, um die seelischen Abgründe zu zeigen, immer wieder hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen düsterem Realismus und leuchtendem Idealismus. Ideal wird sie dabei von der Bühnenbildnerin Heike Scheele unterstützt.
Der erste Aufzug spielt in einer die ganze Bühne umfassenden mittelalterlichen Klosterbibliothek. Assoziationen zu dem Kinoklassiker Der Name der Rose bleiben da nicht aus. Doch es ist nicht nur die imposante Kulisse, die beeindruckt, sondern für Nemirova beinhalten diese Bücher das Wissen, und Wissen bedeutet Macht. Für sie ist das der Grund, warum die Machthaber in diesem Werk, Kirche und Krone mit ihren Bibliotheken oder die Inquisition mit ihren Archiven ihr Wissen speichern und für die Nachwelt aufbewahren, es sichert ihren Machterhalt. In dieser dunklen und düsteren Atmosphäre, verstärkt durch die passende Lichtregie von Fabio Antoci, entwickelt sich das Handlungsgeschehen. Die Bücher spielen in der Inszenierung eine wichtige Rolle. Im großen Freundschaftsduett zwischen Carlo und Rodrigo lesen die beiden gemeinsam in einem Buch. Die erste Hälfte des zweiten Aufzuges bis zum Beginn des Autodafés spielt in einem großen Bad, das quasi in die Bibliothek hineingeschoben wird und den Rahmen für die große Chorszene mit dem maurischen Lied und dem kurzen Moment der Zweisamkeit zwischen Carlo und Elisabetta bildet. Carlo zieht Elisabetta liebevoll die Schuhe aus und wäscht und liebkost ihre Füße, um sich dann wie ein kleines Kind unter ihrem Rock an sie zu schmiegen. Es ist nur ein kurzer Moment des intimen Glücks. Der König erscheint, erniedrigt Elisabetta, schlägt ihre Hofdame nieder. In dieser Ehe ist kein Platz für Gefühle.
Die opulenten Kostüme von Frauke Schernau passen in diesen historischen Kontext. Nach der Pause ändert sich das Setting komplett, wir sind in der Jetzt-Zeit angekommen. Das Bühnenbild ist eine Tribüne, wie ein modernes Amphitheater, und es bildet die Kulisse für ein modernes Autodafé. In der Mitte der Tribüne ein kleines Bühnenorchester, rechts und links das Volk, elegant gekleidet. Dann zieht der Klerus unter Führung des Großinquisitors ein, in blutrote Kirchengewänder gekleidet. Anschließend werden wagenweise Bücher herangekarrt, und das Autodafé kann beginnen. Doch es werden keine Ketzer verbrannt, sondern die Bücher, verbotene Schriften. Die Ketzer von heute sind moderne Freigeister, deren Gedanken in Büchern und Flugblättern dem autoritären Regime nicht passen und die folgerichtig vernichtet werden müssen. So brennen die Bücher unter dem Jubel des Volkes. Auch Carlo gehört zu den Freigeistern, will sich beim König für die unterdrückten Flandern einsetzen, verteilt Flugblätter. Wort und Schrift sind seine Waffen, nicht das Schwert. An dieser Stelle wird die Oper politisch im aktuellen Sinne. Doch Carlo scheitert, der König überstellt ihn der Inquisition, ein verstörendes Bild, erinnert es doch nur zu sehr an autoritäre Staaten wie Belarus, Russland oder Ungarn, wo das freie Wort zur persönlichen Gefahr wird.
Foto © Ludwig Olah
Der Vorhang senkt sich zu einem atonalen Zwischenspiel für Violoncello, komponiert wiederum von Manfred Trojahn, und eingeblendet wird der berühmte Satz Heinrich Heines von 1821: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt am Ende man auch Menschen.“ Man sieht dann wieder die beiden Tänzer, Carlo und Elisabetta, gefangen und zerstört. Der dritte Aufzug beginnt mit dem wunderbaren Cello-Solo von Verdi, und Filippo setzt sich selbst an das Instrument, liebkost es und beklagt im zarten Piano die fehlende Liebe Elisabettas. Es ist die einzige menschliche Regung des ansonsten so gefühlskalten Königs. Für diese Szene gibt es zurecht Szenenapplaus. Danach holt er sich beim blinden Großinquisitor die Absolution, seinen eigenen Sohn töten zu lassen. Die Aussage „Der Thron muss sich dem Altar unterordnen“ ist für ihn die Absolution seines Handelns. Auch Eboli, die bisher im Schatten stand und aus Eifersucht auf Elisabetta deren Schmuckschatulle mit dem Porträt von Carlo gestohlen und dem König als Beweisstück für Elisabettas Untreue hat zukommen lassen, verändert sich nach ihrer großen Arie. Sie schneidet sich die Haare ab, zieht sich eine Camouflage-Militärjacke über und wird Anführerin eines rebellischen Volkes. Der vierte Aufzug spielt in der Gefängniszelle, in der Carlo auf seine Hinrichtung wartet. Im Hintergrund ist das riesige Bücherregal aus der Klosterbibliothek, die Bücher fehlen, es sind nur einige halb verbrannte Reste und Papiere übriggeblieben. Posa hat sich als eigentlicher Drahtzieher der Verschwörung ausgegeben, und der ehemalige Günstling des Königs wird hinterrücks erschossen. Das Volk unter Führung von Eboli rebelliert, doch am Ende siegt die Macht der Kirche. Am Schluss wird es fast spirituell. Es erscheint der totgeglaubte Kaiser Karl V., der Vater von Filippo, erweckt den erschossenen Posa und führt ihn durch eine lichtdurchflutete Tür in eine andere Ebene. Auch Carlo und Elisabetta gehen am Schluss durch diese offene Tür. Ein Hoffnungszeichen für eine bessere Zukunft. Vera Nemirova und ihr Regieteam haben den Ansatz des freien Geistes als Utopie stringent durchgehalten. Zu keinem Zeitpunkt kommt hier Langeweile auf, der Spannungsbogen wird über die knapp vier Stunden extrem hochgehalten. Und es ist ein hochaktuelles Statement in einer der politischsten Opern, die Verdi komponiert hat.
Sängerisch und musikalisch offenbart dieser Abend durchaus Spitzenqualität. Riccardo Massi in der Titelrolle gestaltet die Partie des Don Carlo mit großer Dramatik und Emotion. Sein leicht baritonal gefärbter Tenor hat das warme Timbre in der Mittellage und die leuchtende Kraft in den dramatischen Höhen. Das zeigt er vor allem in der großen Arie Io la vidi. Der harmonische stimmliche Kontrast ist der elegante Bariton von Andrei Bondarenko in der Rolle des Rodrigo Marquis von Posa, der schmeichelnd und galant einerseits die Prinzessin Eboli bezirzt, andererseits kraftvoll und dramatisch sich dem König widersetzt und in seiner finalen Arie Io moro auch schauspielerisch zur Höchstform aufläuft.
Das „Freundschafts- und Freiheitsduett“ Dio, che nell’alma infondere amor zum Ende des ersten Aktes zwischen Massi und Bondarenko ist einer der gesanglichen Glanzpunkte des Abends. Dinara Alieva gibt die Elisabetta glaubwürdig als zerrissene Frau zwischen der Liebe zu ihrem Stiefsohn Carlo und der verpflichtenden Treue zu ihrem Gatten. Ihr Sopran verfügt über eine warme Mittellage und leuchtenden Höhen in den dramatischen Ausbrüchen. Das kommt vor allem in dem Duett Perduto ben mit Riccardo Massi besonders ausdrucksvoll zur Geltung. Vitalij Kowaljow in der Partie des Königs Filippo besticht durch seinen markanten Bass und seine kühle Ausstrahlung, die die Figur so distanziert macht. Seine große Arie Ella giammai m’amo zu Beginn des dritten Aktes gestaltet Kowaljow mit großem Pathos. Es ist ein Gefühlsausbruch, bei dem man mit dieser tragischen Figur fast Mitleid haben kann. Wunderbar eingeleitet wird die Arie durch das Cello-Solo von Norbert Anger. Anna Smirnowa zeigt in der Rolle der Eboli den glaubwürdigen Wechsel von der liebenden Prinzessin zur enttäuschten, rachsüchtigen Furie bis hin zur benutzten Gespielin des Königs. Ihr kraftvoller Mezzosopran hat das Fundament und die Kraft für die große Dramatik. Der Ausbruch in O don fatale gelingt ihr eindrucksvoll. Alexandros Stavrakakis schließlich als Großinquisitor überzeugt nicht nur durch seinen kräftigen schwarzen Bass, sondern auch durch seine physische Präsenz, die angsteinflößend und kompromisslos seine Auftritte umgibt. Der Staatsopernchor Dresden, hervorragend eingestimmt von André Kellinghaus, ist sehr spielfreudig mit großem Ausdruck und sängerischer Differenziertheit, deren Höhepunkt sich im Autodafé manifestiert.
Ivan Repušić leitet die Staatskapelle Dresden dynamisch und differenziert und nimmt sich und das Orchester in den großen dramatischen Duetten und Chorszenen zurück, lässt aber das typische Verdische Farbenspiel mit großen Bögen und Phrasierungen zum Ausdruck kommen und begleitet die Sänger mit großem Gespür für Atem und Pause. Zum Schluss gibt es für alle Beteiligten in der dem Hygienekonzept geschuldeten nur halbgefüllten Semperoper großen Applaus und Jubel für alle Beteiligten, einschließlich Regieteam, dem Komponisten Manfred Trojahn sowie Malwina Stepien und Brian Scalini als die jungen Elisabetta und Carlo.
Andreas H. Hölscher