O-Ton

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Foto © Ludwig Olah

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Parole o musica

CAPRICCIO
(Richard Strauss)

Gesehen am
22. Mai 2021
(Premiere am 8. Mai 2021)

 

Semperoper Dresden

Es ist der alte Streitfall der Theatergeschichte, den Richard Strauss in seiner letzten Oper aufs Tableau bringt: „Wort oder Musik?“ Wem gebührt der Vorrang in der Oper? Strauss gibt vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs seine durchaus nicht unumstrittene Antwort auf die Frage nach der Stellung des Künstlers in der Gesellschaft. Doch Capriccio, als „Konversationsstück mit Musik“ untertitelt, ist keineswegs langweilige Theorie, sondern ein farbenreiches, amüsantes Kammerspiel, in dem der Komponist über den gewitzten Dialogen aus der Feder des Dirigenten und Librettisten Clemens Krauss raffiniert auf 300 Jahre Musiktheater zurückblickt. Das Werk wurde zur Summe von Richard Strauss’ kompositorischem Schaffen und seinem Abschied von der Oper. Für ihn selbst, dem Komponisten von so großen Bühnenwerken wie dem Rosenkavalier, der Elektra, der Salome und der Frau ohne Schatten war dieses Werk überhaupt nicht für die große Bühne konzipiert.

In einem Brief vom 12. Oktober 1941 schrieb Richard Strauss an Clemens Krauss: „Vergessen Sie nicht: Capriccio ist kein Stück fürs Publikum, wenigstens nicht für ein Publikum von 1800 Personen pro Abend. Vielleicht ein Leckerbissen für kulturelle Feinschmecker, musikalisch nicht sehr bedeutend, jedenfalls nicht so wohlschmeckend, daß die Musik darüber hinweghilft, wenn sich das große Publikum für das Buch nicht erwärmen sollte. In Ihrer Mitarbeiterfreude überschätzen Sie freundlicher Weise, glaube ich, das Stück.  Buch und Musik zusammen (wenn man jedes Wort Text versteht, Sie die Philharmoniker dirigieren und Ihre Leibgarde singt), dürfte einen für bessere Leute angenehmen Abend ergeben – an die eigentliche Bühnenwirksamkeit im gewöhnlichen Sinne glaube ich nicht und an einen wirklichen Premierenerfolg im normalen Hoftheaterrahmen auch nicht“, so Strauss.

Die Premiere von Capriccio fand schließlich unter der Schirmherrschaft des Reichsministers Joseph Goebbels am 28. Oktober 1942 im Münchner National-Theater statt und wurde dort bis zur Zerstörung des Münchner Opernhauses am 2. Oktober 1943 mit großem Erfolg gespielt.

Dieses „Konversationsstück“ hat aber nicht nur die grundlegende Streitfrage um Wort oder Musik zum Inhalt, denn natürlich geht es dabei auch um Liebe und Gunst, um Hingabe und Zurückweisung, und so wird aus einer Streitfrage schon sehr bald ein existentielles Spiel um Macht, um Erfolg und Niederlage. Anlässlich der Vorbereitungen ihrer Geburtstagsfestlichkeiten hat die junge, verwitwete Gräfin Madeleine den Komponisten Flamand und den Dichter Olivier in ihr Schloss in der Nähe von Paris geladen. Beide beobachten, wie die Gastgeberin hingebungsvoll einem Streichsextett lauscht, das Flamand für sie komponiert hat. Beide, Komponist und Dichter, lieben die Gräfin und ereifern sich über die Frage, ob Wort oder Musik den Vorrang habe: „Prima le parole, dopo la musica oder Prima la musica, dopo le parole“. Der Theaterdirektor La Roche, der während des Konzerts geschlafen hat, hält nichts von solchen Auseinandersetzungen. Er ist auf dem Schloss, um ein Schauspiel von Olivier für die Festlichkeiten in Szene zu setzen. Madeleine tritt, begleitet von ihrem Bruder, dem Grafen, dazu. Auch sie weiß nicht, welcher Muse sie den Vorzug geben, ob sie sich für Flamand oder Olivier entscheiden soll. Der Graf hat es dagegen leichter, er liebt die berühmte Schauspielerin Clairon, die an diesem Tag zu einer Probe erwartet wird. Clairon und der Graf wetteifern im wechselseitigen Rezitieren eines Sonetts aus Oliviers neuem Schauspiel. Flamand wiederum fühlt sich durch die Worte zum Komponieren inspiriert und enteilt, während Olivier die Gelegenheit nutzt, um der Gräfin vergebens eine Liebeserklärung zu machen.

Flamand kehrt zurück und trägt Oliviers vertontes Sonett vor. Madelaine ist begeistert und nimmt es als Geschenk beider an. Olivier wiederum besucht die Einstudierung seines Stückes durch den Theaterdirektor La Roche. Nun erklärt Flamand seinerseits Madeleine seine Liebe und wird zu einem Rendezvous am nächsten Tag um elf Uhr in die Bibliothek bestellt. Nachdem sich alle wieder im Salon versammelt haben, präsentiert La Roche eine junge Tänzerin sowie ein italienisches Sängerpaar dem erlesenen Kreis. Die Diskussion um die Vorherrschaft der Künste flammt wieder auf.  Mit großer Emphase plädiert La Roche dafür, dass sich alle Künste auf der Bühne der Inszenierung unterzuordnen haben; außerdem fehle es an Werken, die echte und wahre Menschen darstellen. In seiner Ansprache Holà! Ihr Streiter in Apoll entwickelt La Roche seine Vision eines wahrhaftigen wie lebens- und kraftvollen Theaters – und teilt auch gleich noch die Inschrift, die einst auf seinem Grabstein stehen werde, mit. Der Graf macht zur Überraschung aller den Vorschlag: „Schildert euch selbst! Die Ereignisse des heutigen Tages – was wir alle erlebt –.“ Flamand und Olivier erhalten den Auftrag, eine entsprechende Oper zu verfassen.

Die Künstler sind begeistert und brechen zur Heimreise nach Paris auf, der Graf begleitet Clairon und Madeleine bleibt allein zurück. Ihr Urteil bleibt vage: „Ihre Liebe schlägt mir entgegen, zart gewoben aus Versen und Klängen. Soll ich dieses Gewebe zerreißen?“ Als der Haushofmeister meldet, dass Olivier am folgenden Tag um elf in der Bibliothek auf sie warte, fällt ihr ein, dass sie Flamand um dieselbe Zeit dorthin bestellt habe; für wen soll sie sich entscheiden? „Wählt man einen, verliert man den anderen.“

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In der Dresdner Neuinszenierung von Jens-Daniel Herzog, der auch die letzte Meistersinger-Produktion in Dresden verantwortete, erleben wir das heitere Konversationsstück als traurig-melancholischen Rückblick auf das Geschehen. Vor einem Haus, auf einer Bank, sitzen drei alte Männer. Es sind La Roche, Olivier und Flamand. Durch das geöffnete Fenster sehen sie die alte Gräfin Madeleine, wie sie, in schon traumhafter Verzückung den Klavierauszug des Capriccio in den Händen haltend, sich selbst als junge Frau und Sängerin im Fernsehen sieht. Und die beiden Künstler tragen ihren alten Streit immer noch aus. Olivier und Flamand sprühen mit Graffiti-Dosen ihre Losung an die Wand: „Prima le parole, dopo la musica“ und “Prima la musica, dopo le parole“. Um den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen, wird die Losung des anderen konsequent übersprüht. Nur in einem sind die beiden sich einig, in ihrer unerfüllten Liebe zu der Gräfin Madeleine. Dann öffnet sich die Hausfassade, und man erblickt einen Salon im Stil der Vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts, der auf einer kleinen Drehbühne aufgebaut ist. Das Bühnenbild stammt von Mathis Neidhardt. Jetzt beginnt das eigentliche Geschehen, und von den Kostümen scheinen wir uns zur Zeit der Entstehungsgeschichte dieses Werkes zu befinden. Es ist Kriegszeit, der Komponist Flamand in Fliegeruniform ist auf Heimaturlaub. Das ist aber auch die einzige Reminiszenz an diese Zeit. Die Kostüme wurden von Sybille Gädeke sehr stilvoll an die Zeit adaptiert. Regisseur Herzog lotet die Personengeflechte und ihre Beziehungsebenen untereinander sehr sorgfältig aus. Natürlich steht die Gräfin Madeleine im Mittelpunkt, um die sich alles dreht. Es sind aber nicht nur die beiden Künstler Flamand und Olivier, die in ihrem Werben mit ihren Künsten sich gegenseitig übertrumpfen möchten, aufgestachelt von dem selbstgefälligen Theaterdirektor La Roche, dem typischen Prinzipal vergangener Zeiten. Es sind auch die Nebenfiguren, wie Madeleines Bruder oder die Schauspielerin Clairon, deren Rollen in dieser Inszenierung deutlich aufgewertet werden. Und so vergehen diese 2 ½ Stunden wie im Flug, und der Schluss ist genauso melancholisch wie der Anfang. Die Gräfin Madeleine ist alleine im dunklen Salon, und dann erscheint die alte Gräfin Madeleine wie ein Spiegelbild ihrer selbst und überreicht ihr den Klavierauszug des Capriccio. Am Ende ist es dann doch die Symbiose aus Wort und Musik, dass die Oper erst zu dem macht, was wir alle an ihr lieben. Und so ist diese Inszenierung nicht einfach nur heiter und kapriziös, sondern Herzog verleiht ihr den Tiefgang und die Doppelbödigkeit, die wir auch in der Musik finden, die ja teilweise bewusst auch gegen den Text komponiert wurde.

Das Dresdner Capriccio ist mehr als nur eine herkömmliche Operninszenierung, es ist eine Verbeugung vor dem Alterswerk von Richard Strauss. Das liegt zu einem an den herausragenden Sängerdarstellern, aber auch an der Sächsischen Staatskapelle unter der Leitung ihres noch amtierenden Generalmusikdirektors Christian Thielemann. Es ist der erste Auftritt seit Bekanntgabe, dass sein Vertrag in Dresden nicht verlängert wird. Die Antwort darauf gibt Thielemann im Orchestergraben. Thielemann ist nicht nur der herausragende Wagner-Dirigent dieser Zeit, sondern gleichrangig auch der vielleicht bedeutendste Strauss-Interpret. Was er aus diesem Werk, aus dieser sinfonischen Klangmalerei an Schönheit und Tiefgang herausarbeitet, das ist von allerhöchster Güte. Angefangen mit dem wunderbaren Streich-Sextett zu Beginn der Oper, über das dahinperlende Parlando, den scheinbar schwerelosen Gesprächston, Fuge, Sonett und Oktett bis hin zum poetischen Mondscheinstück und dem sentimental-ironischen Finale. Sein Dirigat ist differenziert, jeder Schlag nachvollziehbar, und er nimmt große Rücksicht auf die anspruchsvollen Gesangspartien, so dass die Sänger bei ihm im Vordergrund stehen. Thielemann kann schwelgen, aber er beherrscht genauso die großen kammermusikalischen Momente dieser Partitur, die er dann filetiert und punktiert herausarbeitet und symphonische Tondichtung, orchestrale Opulenz und kammermusikalische Intimität an einem Abend gleichermaßen anbietet. Und die sächsische Staatskapelle setzt seine Vorgaben mit Brillanz und großer orchestraler Klanggewalt um. Für Dresden in seiner großen Tradition der Werke von Richard Wagner und Richard Strauss ist der Weggang von Christian Thielemann ein schwerer, ein herber Verlust. Es bleibt abzuwarten, wie die musikalische Zukunft der Semperoper gestaltet wird.

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Wie fragt die unentschiedene Gräfin zum Ende ihr Spiegelbild? „Kannst du mir helfen, den Schluss zu finden für ihre Oper? Gibt es einen, der nicht trivial ist?“ Es ist zweifelsohne der Abend der Camilla Nylund, die mit Fug und Recht als eine der führenden Strauss-Sängerinnen unserer Zeit gilt. Mit der Partie der Kaiserin in der Frau ohne Schatten an der Wiener Staatsoper scheint sie ihre Paraderolle gefunden zu haben, der sie nun mit der Partie der Gräfin Madeleine, die sie auch schon mit großem Erfolg konzertant in Leipzig gegeben hat, eine weitere Facette hinzufügt. Ihr dramatischer Sopran ist von einer großen Tragfähigkeit, der mit weit gesponnenen Bögen und leuchtenden Höhen eine lyrische Leichtigkeit erzeugt, und doch von großer Durchschlagskraft ist. Ihre Darstellung und ihre Ausstrahlung sind geprägt von einer natürlichen Grandezza. Daniel Behle gibt mit wunderbar lyrischem Tenor und Belcanto-Gesang den Komponisten Flamand, während Nikolay Borchev mit noblem Bariton die Künste des Dichters Olivier preist. Wie ein Fels in der Brandung ist Georg Zeppenfeld als Theaterdirektor La Roche. Mit seinem kräftigen und markanten Bass ist er stimmlich wie optisch ein beeindruckender Künstler, und den La Roche gibt er nicht nur mit viel Leidenschaft und Nachdruck, sondern auch mit sauberer und schöner Deklamation.

Christa Mayer zeigt mit der Rolle der Schauspielerin Clairon, dass Sie nicht nur über einen ausdrucksstarken Mezzosopran verfügt, sondern auch in puncto Rezitation und Deklamation keinen Vergleich zur sprechenden Zunft scheuen muss. Christoph Pohl in der Besetzung des Grafen darf mit seinem markanten Bariton schon als Idealbesetzung angesehen werden. Tuuli Takala überzeugt mit leichtem und hellem Sopran als italienische Sängerin, während Beomjin Kim mit schönem Tenor ihren italienischen Counterpart darstellt. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Monsieur Taupe und Torben Jürgens als Haushofmeister reihen sich gesanglich in das hohe Niveau des Ensembles ein.

Das Einzige, was an diesem Abend fehlt, ist der Jubel und der Applaus des Publikums, den Sängerensemble, Orchester und Dirigent ohne jegliche Einschränkung verdient gehabt hätten. So gibt es lediglich eine stumme Verbeugung vor dem Publikum an den Bildschirmen. Diese Aufführung ist ein musikalischer Hochgenuss, und die Frage „Parole o Musica – Wort oder Musik“ stellt sich nicht, es ist das Gesamtkunstwerk, was zählt. Man kann nur hoffen, dass es bald wieder möglich sein wird, ins Theater zu gehen, denn dieses Werk in dieser Besetzung verdient ein Publikum vor Ort! Die Inszenierung wurde für Arte Concert aufgezeichnet und ist auch auf der Website der Semperoper Dresden weiterhin im Stream zu sehen. Neben einem Audiobeitrag zur Einführung in das Werk ist auch ein Pauseninterview mit Christa Mayer und Georg Zeppenfeld zu hören, mit interessanten Fakten und Hintergründen zu dieser Produktion.

Andreas H. Hölscher