O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Björn Hickmann

Aktuelle Aufführungen

Faszination des Bösen

TOSCA
(Giacomo Puccini)

Besuch am
11. September 2021
(Premiere)

 

Theater Dortmund, Opernhaus

Im dramatischen Finale lenkt Floria Tosca die Pistole, die aus dem Peleton auf sie gerichtet ist, blitzschnell in ihre Richtung und drückt ab. So bleibt ihr der erniedrigende Sprung von der Engelsburg erspart. Zum legendären Schluss des zweiten Akts versagt Tosca dem von ihr erstochenen Scarpia, dem Chef der Polizei Roms, die Würde der aufgestellten Kerzen. Links und rechts vom Kopf des Leichnams, wie es akribisch im Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica beschrieben ist. Auch kniet sie nicht nieder, um textgemäß das Kruzifix auf seine Brust zu legen. Sollte hinter dem Regiekonzept der Dortmunder Tosca-Neuinszenierung eine ethische Haltung stehen, so ließe sich aus solchen dramaturgischen Abweichungen auf ein Eintreten für die der männlichen Willkür ausgesetzte Frau schließen. Eine in Zeiten der Me-too-Bewegung naheliegende, aber nicht sonderlich innovative Position.

Als einen „modernen Psychothriller, bei dem eine raffinierte Figurenpsychologie im Mittelpunkt steht“ kündigt das Theater Dortmund die Eröffnungsopernpremiere zur dritten Spielzeit von Operndirektor Heribert Germeshausen an. Eine so zutreffende wie im Allgemeinen verbleibende Beschreibung von Puccinis Schlüsselwerk des Verismo. Auch die leicht schnodderig formulierte Werkanalyse des Regisseurs Nikolaus Habjan im Blog-Interview mit der Dramaturgin Laura Knoll gibt leider nur begrenzt Einblicke. Habjan nennt Puccinis Geniestreich von 1900 das „perfekte Werk“. Und fährt fort: „Es ist kurz und knackig, total spannend, es passiert etwas und man hat alles drin – die große Romantik, den Psychothriller und auch ein bisschen Action.“

Für die so zu verstehende Inszenierung, in der schlicht „alles drin“ ist, hat sich die Bühnenbildnerin Heike Vollmer eine Grundidee einfallen lassen, nach der die drei Schauplätze visuell ineinandergreifen. Das Innere der Kirche Sant´Andrea della Valle, hier befremdlicher weise eine Ansammlung von Schutt und Trümmern, das Scarpia-Zimmer im Palazzo Farnese, die Engelsburg, die sich der versierte Puccini-Kenner denken muss. Tosca und der Maler Cavaradossi, ihr Geliebter, durchschreiten im Schlussbild voller wehmütiger Erinnerungen noch einmal den Raum der Kirche. Diese ist auch Ort der Hinrichtung Cavaradossis. Dadurch entfällt die Nachempfindung der Engelsburg. Dank der Dreh- und Hebebühne funktioniert das Ganze auch recht gut.

Zusammengehalten wird das Regiekonzept durch eine Wiedergabe des bekannten Gemäldes Maria Magdalena in der Höhle des französischen Malers Hugues Merle aus dem Jahr 1868. Cavaradossi ist damit beschäftigt, mit der Malerei an dem Bildnis der Maria Magdalena einen kirchlichen Auftrag zu erfüllen. Dabei orientiert er sich an dem Antlitz der Marchesa Attavanti, die ihm als häufige Kirchenbesucherin quasi als Modell dient. Das wiederum löst die Eifersucht Toscas aus – lediglich eine Vorstufe der inneren Qualen, die die Sängerin als Frau im politischen Emanzipationsprozess unter dem Diktat Scarpias noch erlangen soll. Mal fokussiert das Merle-Gemälde den Blick des Theaterbesuchers, so im ersten Akt. Mal symbolisiert es die sexuelle Gier des Polizeichefs, so im Farnese-Akt. Schließlich überhöht es im dritten Akt die Intrige, der Cavaradossi unter den Kugeln des Peletons zum Opfer wird.

Besonders eindrucksvoll entwickelt sich die Folterszene im Farnese-Akt. Eben noch hat Scarpia in seinem Brutalo-Monolog Tosca é un buon falco seinen wahren Charakter entlarvt: Ja, was ich begehre, das jag` ich und genieß ich, doch immer Neues gilt es zu erobern. Minuten später fährt die Technik die Bühne mit dem opulent gedeckten Tisch des Polizeichefs hoch, so dass just in time zu sehen ist, wie Cavaradossi in einem Verlies darunter malträtiert wird. Wie – später in der Szene –Tosca diese Folter miterleben muss. Eine delikate Personenskizze liefert hierbei Fritz Steinbacher als Polizeiagent Spoletta ab, der das grausige Geschehen als eine Art Supervisor kontrolliert, teils in Angst vor seinem Vorgesetzten, teils gewillt, die Qualen des Gefolterten zu steigern.

Nimmt man Puccini und sein Autoren-Team beim Wort, stellt Tosca den grandios gelungenen Versuch dar, eine „Kinokomposition“, einen mit filmischen Mitteln grundierten Musikrausch mit einem Handlungsdrama zu verschmelzen, das so oder in etwa so stattgefunden haben könnte. Um so die artifizielle Kunstform der Oper vom Kopf auf die Füße zu stellen. So ihr einen Anstoß zu geben, relevant, also politisch zu werden. Habjans „Psychothriller“ legt somit eine auch politisch motivierte zeitlose Deutung nahe: Man muss das Böse zeigen, um es zu entlarven und dagegen anzukämpfen.

Setzt diese Intention schon mit dem Leitmotiv des Scarpia ein, der B-Dur-As-Dur-E-Dur-Akkordreihe zu Beginn des kurzen Vorspiels, die die glänzend disponierten Dortmunder Philharmoniker unter Leitung des Generalmusikdirektors Gabriel Feltz elektrisierend und machtvoll intonieren, so vervollkommnet sich dieser Eindruck spätestens mit dem Auftritt Scarpias in der Kirche. Unterstützt wird die Projektion auf das Böse schlechthin durch Florian Franzens vorzügliche Lichtregie. Während alle übrigen, der Mesner, die Chorknaben, die Polizeischergen, im Dunkel verschwinden, ist einzig das Haupt Scarpias in ein punktuelles helles Bühnenlicht getaucht. Hier macht kein Bürokrat seine Aufwartung. Hier bringt sich ein Dominator ins Spiel, der für die Befriedigung seiner Interessen und Gelüste über Leichen geht. Habjans Inszenierung der Faszination des Bösen manifestiert sich auch in Kleinigkeiten, einfachen Gesten. So schickt sich Scarpia an, nachdem er mit Tosca ihre Hingabe ausgehandelt hat, die Sängerin auf dem Schreibtisch a tergo zu nehmen.

Lediglich eine zum Allem entschlossene Frau vermag sich dieser Instanz des Bösen entgegenzustellen. Bei Toscas ergreifender Arie Vissi d‘arte vissi d’amore wird das durch eine kluge Personenregie augenfällig. Habjan platziert die erwachsen gewordene, in der politischen Realität angekommene Frau im Zentrum des Bühnengeschehens, während Scarpia beiseite steht. Es ist die Vorstufe des Abstiegs einer tyrannischen Existenz, die einige Momente und Musiktakte später unter dem Messer Toscas ihr Leben ausröcheln wird. Warum im Schlussbild Toscas mit dem letzten Atemzug ausgerufenes O Scarpia, avanti a dio in den deutschen Übertiteln ausgerechnet mit Wir sehen uns bei Gott übersetzt wird, bleibt ein Geheimnis für sich. Wünscht sie sich das Ungeheuer Scarpia doch vor Gott dem Richter und keineswegs in einer metaphysischen Wiederbegegnung.

Um mit Puccini nach den langen dürftigen Corona-Wochen wieder Oper total anbieten zu können, vermag das Theater Dortmund in den drei zentralen Rollen insgesamt vorzügliche Sängerschauspieler aufzubieten. In erster Linie die beiden Gäste, die lettische Sopranistin Inga Kalna und der aus den USA stammende Bariton Noel Bouley. Mutet die Stimme Kalnas im ersten Akt in der Höhe noch ein wenig grell an, überzeugt sie doch insbesondere im Farnese-Aufzug mit lodernden Farben und silbrigem Glanz. Warum die Kostümbildnerin Denise Heschl für sie eine so großvolumige Garderobe ersonnen hat, muss wohl unbeantwortet bleiben. Bouly bleibt der Rolle des Scarpia mit seiner packenden Baritonstimme ebenso wenig schuldig wie James Lee dem Part des Cavaradossi. In ihm paaren sich Spielfreude und tenorale Kantabilität, die nicht nur im Verismo-Hit E lucevan le stelle aufscheint.

Der Bass Denis Velev ist als Mesner eine positive Überraschung. Morgan Moody als Cesare Angelotti und Carl Kaiser als Sciarrone sind in ihren Rollen adäquat. Beseelt leiht Heejin Kim mit knabenhaftem Sopran ihre Stimme dem Hirten. Das Mädchen, das während ihres Auftritts auf einer Kiste am äußersten Rand der Bühne mit einer Puppe spielt, erinnert offenbar an frühere Regiearbeiten des Regisseurs und Puppenspielers Habjan.

525 Besucher erleben im nach Corona-Gesichtspunkten strukturierten Theater den Einstieg in die Wiederaufnahme eines vollen Opernbetriebs, der bereits geplant ist. Sie überschütten alle Mitwirkenden mit anhaltendem, sich steigerndem Beifall. Nicht zuletzt den von Fabio Mancini einstudierten Opernchor des Theaters sowie den Knabenchor der Chorakademie Dortmund unter der Leitung von Dietrich Bednarz.

Cavaradossis „blitzende Sterne“ sind nur im Finale dieses Stücks ausgelöscht worden. Im Theater Dortmund werden sie weiter aufgehen. Und nicht nur dort, zum Glück.

Ralf Siepmann