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Foto © Sven Lorenz

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Poesie mit zwei Händen und viel Gefühl

KLAVIER-FESTIVAL RUHR
(Jan Lisiecki)

Besuch am
8. Juni 2020
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Konzerthaus Dortmund

Eigentlich sollte Jan Lisiecki mit dem WDR-Sinfonieorchester alle Konzerte Ludwig van Beethovens präsentieren. Daraus wurde angesichts der Corona-Maßnahmen ebenso wenig wie aus dem ambitionierten Vorhaben, im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr das pianistische Gesamtwerk des Bonner Meisters aufzuführen. Immerhin kann Intendant Franz-Xaver Ohnesorg seit diesem Monat noch den größten Teil des bis zum 10. Juli noch vorgesehenen Festival-Programms realisieren. Und auch auf Jan Lisiecki muss das Publikum nicht verzichten. Mit zwei Solo-Recitals stellte er sich den Zuhörern im Dortmunder Konzerthaus und der Essener Philharmonie vor. Mit Programmen, die er jeweils zwei Mal am Tag stemmte. Dass er pünktlich aus Kanada im Ruhrgebiet eintreffen konnte, ist zurzeit nicht selbstverständlich.

Foto © Sven Lorenz

Dass der Schwerpunkt auf die Musik Frédéric Chopins verlagert wird, kann man leicht verschmerzen. Nach dem herausfordernden Kraftakt Rudolf Buchbinders mit dessen hoch konzentriertem Diabelli-Projekt kann man sich am ersten Abend im Dortmunder Konzerthaus erheblich entspannter zurücklehnen. Was nicht nur an der Virus-bedingten Sitzfreiheit liegt, sondern auch an der auf Chopins besonders sensibel tönende Nocturnes ausgerichteten Werkfolge. Gleich sieben der feinfühligen Nachtstücke gibt Lisiecki zum Besten, darunter auch die populären Stücke aus Opus 27, 9 und 48. Es spricht für den 25-jährigen, polnisch verwurzelten Kanadier, dass er sich ohne eitle Selbstdarstellung als Lyriker präsentiert und nicht den geringsten Ehrgeiz in virtuose Eitelkeiten investiert. Dass ihm das technische Rüstzeug und die physische Kraft für spektakuläre Husarenritte nicht fehlt, deutet er lediglich im Schlussstück des 70-minütigen Programms an, das er mit Chopins Andante spianato et Grande Polonaise brillante op. 22 wirkungsvoll abschließt. Doch bereits für die Zugabe greift er mit dem Thema aus Bachs Goldberg-Variationen auf einen introvertierten Beitrag zurück.

Die anschlagstechnisch und emotional feine Interpretation aller Nocturnes, aber auch der Ballade Nr. 4 zum Auftakt zeigt, wie stark sich Lisiecki dem lyrischen Kosmos Chopins verbunden fühlt. Der Abend hinterlässt einen erheblich geschlosseneren und in sich stimmigeren Eindruck als etwa seine Einspielung der Chopin-Etüden, der die letzte Prise an Brillanz fehlt, die etwa Mauricio Pollini hören lässt.

Einwände solcher Art erübrigen sich bei Lisieckis Interpretationen der Nocturnes. Er setzt die Reihe großer polnisch-stämmiger Chopin-Interpreten wie Artur Rubinstein und Krystian Zimerman würdig fort. Allesamt Musiker, die begriffen haben, dass Chopin das Klavier eher wie eine Gesangs- oder Streicherstimme behandelt wissen möchte und nicht wie ein mechanisches Tasteninstrument.

Solche Talente, die bescheiden an sich arbeiten und wachsen, bilden eine seltene, aber wichtige Ausnahme im bisweilen mediengeilen Klavierzirkus unserer Zeit. Man muss nicht täglich online und in diversen Talk-Shaws präsent sein wie sein Kollege Igor Levit. Und ob Levits hochgejubelte Gesamteinspielung der Beethoven-Sonaten tatsächlich das Maß aller Dinge darstellt, verdient einige Fragezeichen. Wenn man wie Levit mit 33 Jahren offenbar bereits das Wichtigste zu Beethoven gesagt hat, was haben wir dann noch zu erwarten? Vielleicht die zurückhaltenden, aber mindestens so substanzreichen Beiträge von Musikern wie Jan Lisiecki.

Pedro Obiera