O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Slapstick-Komödie mit wenig Tiefgang

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)

Besuch am
2. Dezember 2023
(Premiere)

 

Landestheater Coburg

Mit der dringend anstehenden Renovierung des Landestheaters Coburg von 1840 soll in naher Zukunft begonnen werden. Für die Interimszeit hat die Stadt beim alten Güterbahnhof ein Gebäude errichtet, das dem Globe Theatre von Shakespeare nachempfunden ist. Ein polygonaler Betonbau im Kern wird außenherum von einem luftig-leicht wirkenden Holzständerbau mit vielen Fenstern umgeben. Hier finden sich das Foyer mit Garderobe, Bars, Kasse und so weiter. Betritt man den Zuschauerraum, der durch den Orchestergraben von der Bühne getrennt ist, fallen die mit Holzleisten verkleideten Wände auf, die eine gute Akustik versprechen. Das Gebäude wird die nächsten Jahre als Ausweichspielstätte dienen und danach für weitere Zwecke zur Verfügung stehen – eine sehr gut gelungene Lösung.

Das Globe verfügt weder über einen Schnürboden noch über eine Drehbühne, was Bühnenbildner Marvin Ott geschickt mit einem sich drehenden Gazevorhang überspielt, der Raum für Projektionen bietet und je nach der klug durchdachten Lichtregie unter Markus Stretz eine weiße Trennwand oder einen durchsichtigen, Geheimnisse verbergenden Übergang zu einer anderen Welt darstellt. Das sind zunächst Voraussetzungen, die eine märchenhaft verlockende Inszenierung ermöglichen könnten. Aber weit gefehlt. Hänsel und Gretel sind laut Programmheft in der Fränkischen Schweiz und machen am Wald mit ihren Eltern Urlaub in einem heruntergekommenen Wohnwagen. Ein Campingstuhl, ein alter rustikaler Holzstuhl, die Wachstuchtischdecke und der runde Holzkohlengrill setzen das Geschehen in die Nachkriegszeit.

Foto © Constanze Landt

Regisseur Neill Barry Moss zeichnet auch für die Kostüme verantwortlich und schickt Mutter Gertrud mit Lockenwicklern und Puschelsandalen auf die Bühne, obwohl sie gerade trotz Urlaubs, man braucht ja das Geld, von einer Putzstelle kommt. Die Eltern, Hänsel und Gretel und die Kinder sind in Flickenkostüme gekleidet, viele aus Krawatten gemacht, wie gesagt, die 50-er Jahre lassen grüßen. Vater Peter bringt als Staubsaugervertreter nicht nur Lebensmittel, sondern auch einen Pelzmantel für die Frau mit. Die Hexe kommt im gelben voluminösen Kleid mit Teddybären besetzt, das sehr viel Bein und das, was drüber liegt, zeigt, mit einem übermäßigen violettfarbenen Zylinder auf dem Kopf.

Nach eigener Aussage will Moss die Not der Kinder herausstellen und den theatralen Raum als Schutz für sie verstehen, Hoffnung vermitteln. Er hat sich viel einfallen lassen und die Ideen purzeln nur so im Verlauf der Handlung, die bezeichnenderweise im Programmheft „Vorgänge“ genannt werden. Da werden zur Ouvertüre mit Zuckerguss verschiedene Namen auf der projizierten Torte ausprobiert, bis man endlich bei Hänsel und Gretel landet. Das Geschwisterpaar bewirft sich beim Kochen des Reisbreis mit Mehl, das gerade auch so herum steht. Später verorten im Kino mitten im Wald alte Urlaubsvideos aus den 50/60-er Jahren das Geschehen mit Autos, die einen Pass nur mit qualmenden Kühlern überwinden, eher in Italien als in der Fränkischen Schweiz. Sprechende Gesichter im stummen Super-8-Film, badende Kinder, Bier trinkende Männer, Frauen beim Kaffeekränzchen und vieles mehr lenken von der wunderbaren Musik ab und bringen keinen Gewinn. Viele der Einfälle lassen keinen Bezug zum Geschehen erkennen. So haben Hänsel und Gretel im Wald ein Handy, das Gretel benutzt, um den Text von Ein Männlein steht im Walde abzulesen. Hänsel macht deutlich, dass sie keinen Empfang haben, aber natürlich läutet das Gerät mit dem Kuckucksruf im nächsten Moment. Und das ist so typisch für die gesamte Aufführung: Egal, ob es passt oder nicht, es wird jedem Gag nachgejagt, sehr assoziativ. Eine gedankliche Konsequenz ist oft nicht ersichtlich. Anstatt der vierzehn Engel kommen nach dem Abendsegen die Lebkuchenkinder mit Teddybären im Arm auf die Bühne und Sand- und Taumännchen füttern sie mit Popcorn. Sie sind verlorene Kinder, nach denen im Kinofilm des aufploppenden Waldkinos gesucht wird. Eine Mutter, die ihr Kind hier wiederfindet, soll Hoffnung ausdrücken.

Die Hexe wird bei Moss zu einer albtraummäßigen, Kinder missbrauchenden Figur, die Hänsel und Gretel ihren Hintern entgegenstrecken muss und sich ihrer Hände bedient, um über den üppigen Hängebusen zu streichen. Einem Teddy wird in den Schritt gegriffen.

Da freut man sich über kurze Momente, die zeigen, dass Moss auch poetisch sein kann: Als sich die Bühne nach dem Abendsegen wandelt, verklären blaues Licht und Schneeflocken die Szene, wenn auch das Taumännchen im rosaroten Bärenkostüm hereintapst.

Foto © Constanze Landt

Bei den Sängern sticht Kora Pavelić als Hexe heraus. Sie wirbelt energievoll über die Bühne und bringt auch in feinen Schattierungen ihre Lüsternheit zum Ausdruck. Ihr Mezzosopran ist voluminös und ausdrucksstark, schauspielerisch bringt sie sich voll ein, das Prüfen des Hühnerbeinchens gerät zum Kabinettstückchen. Wie gut, dass sie am Ende trotz vorbereiteter Dynamitladung nicht zersprengt wird, sondern einfach hinter dem Vorhang verschwindet, diese Sängerin möchte man noch des Öfteren hören! Francesca Paratore als Gretel hat eine obertonreiche, lyrische Sopranstimme und gibt mit funkelnden Tönen ihre Partie sehr beeindruckend. Ihr zur Seite steht der Hänsel von Emily Lorini, der gut mit ihr harmoniert. Anfangs singt sie noch etwas verhalten, im Laufe des Stückes aber gewinnt sie immer mehr an Kraft, Farben und Ausdruck. Sehr burschikos muss sie daherkommen, mit Schnurrbart schon fast der Jugend entwachsen. Mutter Gertrud wird von Rebecca Davis ausdrucksstark gesungen, einem kräftigen Sopran, der sich zwischen Überarbeitung und Sorge um die Kinder im Dialog mit Vater Peter profiliert. Daniel Carison muss als Staubsaugervertreter einen eher lüsternen als sorgenvollen Vater spielen, singt aber mit charakterisierendem Bariton einen spielfreudigen Besenbinder, mit stets angenehmer, in allen Bereichen gut durchgängiger Stimme. Das Sand- und Taumännchen sind mit Chordamen besetzt und fügen sich in das Ensemble gut ein. Stefanie Ernst und Luise Hecht bringen als Beschäftigte des Waldkinos nicht nur Popcorn, sondern auch passende Töne mit. Die Kinder des Lebkuchenchores, Einstudierung Marius Popp, sind hier als verlorene Kinder stärker in die Inszenierung eingebunden und singen den Chor nach ihrer Erlösung sicher und schön.

Unter GMD Daniel Carter spielt das Philharmonische Orchester Landestheater Coburg die anspruchsvolle Partitur weich, beweglich und präzise, große Bögen und Steigerungen auskostend. Schade, dass man die Ouvertüre und die Zwischenmusik auf der Bühne mit Action überfrachtet, anstatt den Besucher zuhören zu lassen.

Wer also den Slapstick und die Candywelt liebt, der kann sich die Inszenierung zu Gemüte führen, alle anderen sollten sich in anderen Häusern umsehen. Das Publikum im ausverkauften Globe begeistert sich fast ausnahmslos für Moss‘ Sichtweise, eine gedankliche Konsequenz scheint nicht mehr unbedingt nötig. Allerdings gibt es auch etliche Zuschauer, die sich jeglichen Applaus sparen.

Jutta Schwegler