O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nasser Hashemi

Aktuelle Aufführungen

Weg mit dem Mythos

TRISTAN UND ISOLDE
(Richard Wagner)

Besuch am
31. Oktober 2021
(Premiere am 23. Oktober 2021)

 

Oper Chemnitz

Es ist knapp drei Jahre her, dass in Chemnitz ein ambitioniertes Projekt anlässlich des 875-jährigen Stadtjubiläums vollendet auf die Bühne gebracht wurde. Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen wurde 2018 neu inszeniert, und zwar direkt von vier verschiedenen Regisseurinnen. Die finale Götterdämmerung wurde von Elisabeth Stöppler und ihrem Team gestaltet, die Inszenierung wurde 2019 mit dem Theaterpreis Der Faust ausgezeichnet. Neben der beeindruckenden Inszenierung war diese Premiere seinerzeit auch der Abend der großen Rollendebüts mit beeindruckenden Stimmen. Allen voran Stéphanie Müther als Brünnhilde und Daniel Kirch als Siegfried. Die beiden Akteure kehrten nun als Tristan und Isolde nach Chemnitz zurück. Und wer die Götterdämmerung in Chemnitz gesehen hatte, der durfte gespannt darauf sein, wie Elisabeth Stöppler ihre Sichtweise auf die vielleicht emotionalste und dramatischste Liebesgeschichte der deutschen Opernliteratur einbringen würde. Eins war von Anfang an klar, Stöppler würde in jedem Fall versuchen, den Mythos von der überhöhten Liebe und der Erlösung durch den Tod zu kippen. Da wäre sie nicht die Erste, die daran scheitern könnte. Aber Stöppler tappt nicht in die Falle, die Geschichte von Tristan und Isolde neu zu erfinden, dafür kennt sie das Werk und den Komponisten zu genau. Sie verlegt sich auf eine radikale Analyse der Psychogramme der beiden Hauptfiguren und setzt die in den Kontext zu ihrem Umfeld in einen „ästhetischen Realismus“, der alle Gefühle als Produkt oberflächlicher Handlungen oder traumatisierender Erfahrungen darstellt, und in dem das Unterbewusstsein manipulierbar ist. Siegmund Freud lässt grüßen, nur dass der noch ein Knabe war, als Richard Wagner seine Handlung in drei Aufzügen fertigstellte, inspiriert von der Philosophie Schopenhauers. Der Komponist adaptierte das mittelalterliche Tristan-Epos und schuf eine Musik, die die übermächtigen Emotionen und Gedankenströme der Hauptpersonen weit mehr in den Vordergrund rückt als jede andere Oper zuvor. In extremer Konzentration auf das Innerste der kaum noch handelnden Akteure verhalf er seiner beinah sinfonisch anmutenden Musik zu größter Entfaltung und Selbstständigkeit. Durch den strikten Verzicht auf formale Zäsuren schuf Wagner eine hocherotische Musik, eine „unendliche Melodie“ voll glühender Spannungen sowie die stetig wachsende, alles verzehrende Sehnsucht nach Erlösung. Und genau diesen Mythos versucht Stöppler in ihrer Inszenierung zu entzaubern. Wenn man diesem Ansatz folgt, dann merkt man ganz schnell, wie zeitlos das Werk ist und wie real die Handlung ist, wenn man bestimmte Handlungsmuster verfolgt. Am Ende steht dann nicht mehr die Verklärung und der Liebestod Isoldens, sondern ein radikaler und einsamer Abschied.

Foto © Nasser Hashemi

Der erste Aufzug spielt auf einem Kriegsschiff, vermutlich ein U-Boot, denn auf der oberen Ebene sieht man die Kommandobrücke mit Periskop, daneben die Steuerzentrale, die Mannschaft in dunklen Kampfanzügen mit Barett. Eine Etage tiefer sind die schmalen und engen Kojen von Isolde und Brangäne. Tristan erscheint in Kapitänsuniform, sein treuer Begleiter Kurwenal, der wohl wegen einer Kriegsverletzung humpelt, ist der Erste Offizier. Die Hierarchie an Bord ist somit klar geregelt. Isolde ist extrem aufgebracht, weil sie wie eine Kriegsgefangene zu Marke gebracht wird, ihre Begleiterin Isolde ist nervös und hysterisch, zündet sich ständig eine Zigarette an. Tristan versucht, seine Nervosität mit einem Jo-Jo-Spiel zu übertünchen. Isolde ist traumatisiert, denn Tristan hat nicht nur ihren Verlobten Morold getötet, sondern hat ihr auch noch dessen abgeschlagenen Kopf geschickt. Mehr Erniedrigung geht schon fast nicht mehr. Und Tristan leidet an seinem Kindheitstrauma, dass er seinen Vater nie gekannt hat und seine Mutter unter der Geburt gestorben ist. Nun muss er auch noch die Frau, die er meint zu lieben, seinem Onkel als Braut zuführen. Es ist eine fatale Situation, die natürlich eskaliert, und Tristan wünscht sich den Tod. Isolde will Rache und Sühne, aber nicht profan, sondern in einem gemeinsamen Suizid. Wagner überhöht die Situation, indem Brangäne statt des Todestranks einen Liebestrank mischt und Tristan und Isolde in eine aussichtslose, verzehrende Liebesbeziehung stürzt. Und hier kommt der erste radikale Ansatz von Stöppler. Es sieht so aus, dass Brangäne den Trank gar nicht vertauscht, sondern Isolde tatsächlich den Todestrank reicht. Doch bevor Tristan davon trinken kann, reißt Isolde ihm den Becher aus der Hand, und schafft es nicht, davon zu trinken. Mit dieser doppelten Negierung schafft Stöppler eine ganz neue Szenerie, die Tristan und Isolde und deren Beziehung untereinander neu ordnet. Tristan bricht in einen Weinkrampf aus, und Isolde hält ihn wie eine Mutter ihr Kind im Arm.

Der zweite Aufzug am Hofe König Markes spielt in einem eleganten Salon, für Marke hat Isolde nur ein verächtliches Lachen übrig. Brangäne scheint die Lage und die drohende Gefahr für Tristan und Isolde zu ahnen, ihre Nervosität versucht sie mit einer Zigarette nach der anderen zu bekämpfen. Das große Liebesduett zwischen Tristan und Isolde im zweiten Aufzug findet nur in der Musik statt, in der Realität ist es ein langatmiges Streitgespräch, in dem jeder seinen Standpunkt vertritt. Das ist kein Miteinander, mehr ein Gegeneinander.

Wie schon im ersten Aufzug ist der Todeswunsch greifbar, aber auch gleichzeitig die Unfähigkeit zur Umsetzung. Tristan hat eine Pistole, die er abwechselnd auf Isolde und auf sich richtet, aber er schafft es nicht abzudrücken. Die Situation eskaliert, als der aalglatte Opportunist Melot die verbotene Beziehung an König Marke verrät. Auch Marke ist überfordert, enttäuscht, gedemütigt, und das äußert sich in einer Übersprungshandlung, in dem er Tristan auf den Mund küsst, und der sich angewidert abwendet. Zum Schluss des zweiten Aufzuges provoziert Tristan Melot und schießt sich dann selbst in die Brust.

Der dritte Aufzug bringt die Auflösung von Stöpplers Psychogramm. Tristan ist zurück in seinem Elternhaus, und die Szenerie spielt in seinem alten Kinderzimmer. Ein großes Filmplakat von Das Boot an der Tür erklärt, warum Tristan Kapitän eines U-Bootes geworden ist. Filmplakate von Rocky und Rambo ergänzen den Heldenmythos. Hinter einem schwarzen Vorhang ist das Schlafzimmer seiner Eltern, und im Fieberwahn öffnet er den Vorhang und man sieht seine toten Eltern auf dem Bett liegen, daneben eine Babywiege. Es ist ein verstörendes Bild, und Tristans psychische Veränderungen haben mit der tödlichen Wunde, die er sich zugefügt hat, ein extremes Ausmaß gefunden. Auch Kurwenal ist nicht nur körperlich, sondern an Geist und Seele verwundet und tut doch alles, um Tristan zu helfen, jedoch vergebens. Der Hirte ist wie der gute Nachbar von nebenan, der mal nach dem rechten schaut, um dann wieder zu verschwinden. Am Schluss verschließt er die Tür, nachdem sich Kurwenal selbst erschossen hat, und überlässt Tristan und Isolde ihrem Schicksal, nachdem auch Marke und Brangäne das Zimmer verlassen haben. Als Isolde endlich erscheint, ist das Schlafzimmer der Eltern leer, und Tristan stirbt auf dem Bett, ohne Heilung von Isolde erfahren zu können. Die finale Erlösung Isoldens, den „Liebestod“, verweigert Stöppler. Zurück bleibt eine einsame, traurige Frau, ohne Hoffnung und Perspektive.

Diesen radikalen Ansatz muss man nicht mögen, aber er ist stringent und vor allem in allen Punkten nachvollziehbar und nicht am Werk vorbei inszeniert, wie so häufig. Wenn man sich allerdings auf Stöpplers Psychogramm einlässt, dann kann man diesen Tristan in der Tat neu entdecken, und dann nimmt einen die Inszenierung gefangen, und man leidet mit den Protagonisten, aber auf eine andere Weise als bei einer konventionellen Inszenierung. Mit der Bühnenbildnerin Annika Haller, der Kostümdesignerin Gesine Völlm und dem Lichtregisseur Holger Reinicke kann Stöppler auf dasselbe Team zurückgreifen, das auch die Götterdämmerung vor drei Jahren konzipiert hat. Es gibt viele Ähnlichkeiten in den Beziehungsgeflechten der Personen untereinander, Brünnhilde war stark, Siegfried schwach. Das gleiche kann man durchaus auch für diese Inszenierung konstatieren. Eine starke Regisseurin inszeniert starke Frauen und holt sie runter vom Wagnerschen Sockel der Dienerinnen und Erlöserinnen und entmystifiziert dabei das Werk von der hohen Liebe.

Auch musikalisch und sängerisch überzeugt dieser Tristan durch höchstes Niveau, auch wenn es vor der Vorstellung eine kurze Schrecksekunde gibt, als Intendant Christoph Dittrich auf die Bühne kommt und Daniel Kirch als Tristan und Alexander Kiechle als König Marke als erkältet ankündigt. Doch bei beiden ist von der Indisposition nicht viel zu spüren. Kirch ist einer der führenden Wagner-Tenöre dieser Zeit, und sein Leipziger Debüt als Tristan hat in puncto Interpretation und Darstellung neue Maßstäbe gesetzt. Das kann er auch in Chemnitz zeigen, auch wenn er sich mit Rücksicht auf die angeschlagene Stimme in einigen Passagen etwas zurücknimmt. Sein baritonal gefärbter Tenor ist kraftvoll in der Mittellage, ausdrucksstark in den Höhen und strahlkräftig in den dramatischen Ausbrüchen. Er schafft es trotz seiner Angeschlagenheit, mit seiner kraftvollen Stimme über das Forte des Orchesters zu kommen, ohne dass die stimmliche Präsenz darunter leidet. Seine dramatische Ausdruckskraft, seine physische Bühnenpräsenz und die Darstellung des schwer traumatisierten Menschen sind beeindruckend, gleiches gilt für seine Textverständlichkeit.

Stéphanie Müther hat in der Premiere acht Tage zuvor ihr Rollendebüt als Isolde gegeben. Sie hat die Flexibilität in der Stimme, die Isolde in den lyrischen Passagen noch jugendlich-dramatisch mit Geschmeidigkeit und Schönheit zu gestalten, hat aber den Stahl und den Furor, in den großen Ausbrüchen ins Hochdramatische zu wechseln. Müther überzeugt vor allem mit ihrer wunderbaren weiten Mittellage, in der sie schöne Farbkontraste erzeugt. Ihr Liebestod am Schluss ist Strömen und Versinken in einem, und sie begeistert auch durch ihre großartige Bühnenpräsenz.

Sophia Maeno weiß in der Rolle der Brangäne mit einem warmen Mezzosopran und leuchtenden Höhen zu begeistern, ihr Wachtruf im zweiten Aufzug ist voller Anteilnahme und Mitgefühl geprägt. Oddur Jónsson gibt den Kurwenal mit volltönendem Bariton und großer Ausdrucksstärke. Alexander Kiechle als König Marke verfügt zwar über einen schönen und balsamischen Bass, doch ist er mit seinen noch nicht einmal dreißig Jahren einfach zu jung für die Rolle. Das betrifft sowohl das Fundament und die Reife der Stimme als auch die Bühnenpräsenz. Da tut man ihm mit dieser Rolle keinen Gefallen. Die Rolle des Melot ist mit Till von Orlowsky gut besetzt. Martin Petzold, das Urgestein der Oper Leipzig, ist in der Rolle des Hirten eine Idealbesetzung. Thomas Kiechle lässt als junger Seemann mit schönem Tenor und großer Textverständlichkeit aufhorchen, und Jacob Scharfmann fügt sich als Steuermann harmonisch ein.  Die Herren des Opernchors Chemnitz sind von Stefan Bilz gut eingestimmt.

Die Robert-Schumann-Philharmonie unter der Leitung von Guillermo Garcia Calvo musiziert mit einem insgesamt langsamen und breiten Tempo. Berührend sind die symphonischen Elemente wie das Vorspiel zum ersten Aufzug, das filigran und zerbrechlich aus dem Graben ertönt, sowie der Beginn des dritten Aufzuges mit dem Englischhorn-Solo.

Der berühmte dissonante Tristan-Akkord weckt die Hoffnung auf eine verströmende Tonsprache, die so charakteristisch für dieses Werk ist. Calvo erzeugt mit der Robert-Schumann-Philharmonie Stimmungen und Farben, die in einem diametralem Gegensatz zur Handlung auf der Bühne stehen und die trotzdem die Aufführung zu einem emotionalen Erlebnis werden lassen.

Das Publikum dankt es am Schluss nach über fünf Stunden mit großem Jubel für die Akteure. Wer ein Fan der Chemnitzer Götterdämmerung ist, der wird auch diesen Tristan lieben, auch wenn er nicht eingängig ist in seiner Radikalität.

Andreas H. Hölscher