O-Ton

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Foto © Mark Douet

Aktuelle Aufführungen

Zeit und Schicksal

2067: TIME AND TIME AND TIME
(Alexandra Waierstall)

Gesehen am
23. April 2020
(Livestream)

 

Dance House, Cardiff

Zurzeit ist es recht ruhig um den zeitgenössischen Tanz bestellt. Wer jetzt mit einer Sternstunde der Tanzsolisten gerechnet hat, sieht sich enttäuscht. Der rechte Zeitpunkt für Alexandra Waierstall, ihre neueste Choreografie zu präsentieren. Die Uraufführung fand im Februar im Dance House des walisischen Cardiff statt und wurde aufgezeichnet. Jetzt also gibt es das vollständige Video, kostenlos und ohne Spendenaufruf. Wer sich das Video anschauen möchte, braucht dazu lediglich „Alexandra Waierstall“ in YouTube anzugeben. Derjenige sollte sich allerdings vorher das Interview mit Waierstall dazu anschauen.

Darin erzählt sie, dass sich das neue Werk 2067: Time and Time and Time auf ein Schriftstück bezieht, das sie bereits 2013 als Beitrag des Gesamtwerks Inventing Futures verfasst hat. Darin unterscheidet sie, sagt sie, zwischen Chronos und Kairos, also der geradlinig verlaufenden Zeit und der Bedeutung der Zeit. Für Waierstall ist die Verbindung von Zeit in der Vergangenheit und der Zukunft besonders interessant. Wie verhält sich Zeit? Wie streckt sie sich, wie verändert sie sich? Die Tänzer müssen sich also auf die poetische Eleganz einlassen, die im Verhältnis von Zeit zur dichterischen Bestimmung steht.

Foto © Mark Douet

In der praktischen Umsetzung wirkt sich das weitaus weniger spektakulär als in früheren Arbeiten aus. Eine schwarze Guckkastenbühne mit zahlreichen Ausgängen zeigt acht Tänzer beiderlei Geschlechts der National Dance Company Wales, die keine wirklich neue Bewegungssprache zeigen. Stattdessen haben sie Mobilfunkgeräte in den Händen, mit denen sie das Licht steuern, das einen großen Anteil im Lichtdesign von Caty Olive ausmacht, die sich ansonsten auf wenige Deckenspots konzentriert. In schwarzen Kostümen, die mit silberfarbenen, schwarzen und weißen Applikationen von Brighde Penn gestaltet wurden, bleibt das Gesamtbild düster, im besten Sinne träumerisch. Erst im letzten Drittel der Aufführung gelingt es Waierstall mit dem Einsatz von Folien, überraschende Aspekte aufzuwerfen.

Und so bleibt diese Choreografie im Wesentlichen der Wirkung der Musik überlassen, die längst bewährt in die Hände von Hauschka gelegt wird. Ertönt anfangs so etwas wie ein Raunen, wächst der Komponist im mittleren Teil über sich selbst hinaus, wenn er einen Sog seiner elektronischen Musik erzeugt, den er bis zum Ende aufrechterhalten kann. Alsbald ist man in den fein pulsierenden Fäden der Musik gefangen und nimmt die Bewegungen der Tänzer nur noch beiläufig wahr. Das kann so nicht im Sinne von Waierstall sein, bringt der halbstündigen Aufführung aber den Gewinn, den man von ihren früheren Arbeiten gewohnt ist. Dass die Magie der Live-Aufführung hier im Tanz nicht stattfindet: geschenkt. In der Musik gelingt es Hauschka, sie aufrechtzuerhalten.

Damit bleibt am Ende der Aufführung, die noch zu Zeiten außerhalb der Corona-Krise entstand, das Gefühl zurück, etwas Spannendes erlebt zu haben. Für die Qualität der Arbeiten Waierstalls kann das aber nicht das Ergebnis sein, was sie vorantreibt. Da freut man sich auf die Zukunft, ganz ohne die Behinderung der Vergangenheit, in der der Tanz sich auflöst.

Michael S. Zerban